2 Samstagabend

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Rico starrte den Fernseher an. Keinen Muskel wagte er zu bewegen, keine Regung kam über sein blasses Gesicht. Stumm saß er da, die Knie unter das Kinn geschoben und den Blick weiter auf den verstaubten Bildschirm gerichtet.

Neben ihm bewegte sich seine kleine Schwester und räusperte sich leicht. Weil sie aber nichts sagte, war Rico das egal, genauso wie er sein Handy ignorierte, das bereits mehrfach kurz vibriert hatte.

Seine Konzentration galt ganz allein dem Fernseher.

Wenn er sich gerade nicht verhört hatte, hatte sein Vater gerade unterschwellig zugegeben, dass er die alten Zeiten vermissen würde. Scheiße. Rico vermisste diese Zeiten absolut nicht.

Außerdem hatte Cielo Vaz, wie der dämliche Künstlername seines Vaters lautete, rot unterlaufene Augen, die ganz sicher nicht vom Heulen kamen. Er war mal wieder bekifft, das war ziemlich eindeutig, und das auch noch live im Fernsehen.

Rico schüttelte unbewusst den Kopf. Wieso tat er sich das eigentlich an? Wieso glotzte er diese Scheiße? Nur weil Samstagabend war und gerade nichts Besseres lief? Weil seine Schwester die Fernbedienung geschnappt hatte und das ernsthaft sehen wollte? Zum Kotzen.

Er griff nach seinem Handy und las die verpassten Nachrichten seiner Freunde. Vor einer Stunde hatte die Party bei Fred begonnen. Eigentlich sollte Rico auch schon dort sein, aber eben war er fast auf dem Sofa eingeschlafen. Er hatte die Zeit vergessen.

Sam schrieb gerade. „Wo bleibst du, Alter??"

Gute Frage. Rico raffte sich endlich auf und marschierte in sein Zimmer hinüber. Dort wechselte er schnell die Jogginghose zu einer verwaschenen Jeans und im Bad warf er skeptisch einen Blick in den Spiegel. Ein Pickel leuchtete an seinem Kinn und die unzähmbaren Locken, mit denen er sich sein ganzes Leben lang schon abfinden musste, standen wie üblich wild von seinem Kopf ab. Abschneiden würde er sie aber trotzdem nicht. Er wollte nicht so aussehen wie sein Vater und eigentlich mochte er sie ja doch irgendwie.

Schnell wusch er sich das Gesicht, packte sein Handy, Schlüssel und etwas Geld ein, und trat zurück ins enge Wohnzimmer. Felina saß unverändert vor dem Fernseher und beobachtete, wie jetzt ihr Vater zu einer aufgebauten Bühne hinüber ging. Wahrscheinlich sang er jetzt seinen letzten Hit und das war Rico herzlich egal. „Fee?"

„Was?", kam es zurück. Sie hatte nicht mal vom Fernseher weggeschaut.

Rico verdrehte die Augen. „Ich bin jetzt weg, kommst du klar?"

„Ja ... Warte!"

Sie stand tatsächlich auf und schenkte ihm das liebste Lächeln, das sie drauf hatte. Das zog nicht bei ihm und er atmete nur tief durch, ehe er ungern fragte: „Was willst du?"

„Darf ich deinen Laptop benutzen?"

Sie neigte den Kopf leicht, wobei ihre glatten Haare zur Seite fielen, und klimperte lieb mit den Wimpern. „Auch gar nicht so lange. Du brauchst ihn ja nicht, wenn du unterwegs bist."

Oh, Mann. Hatte er seinen Verlauf gelöscht? Konnte sie sonst etwas anstellen? Sie lieh ihn ja öfters aus. Es war der einzige Computer im Haus, aus seinen Ersparnissen.

„Okay, aber stell' keine Scheiße damit an."

„Dankeschön!" Ein breites Grinsen breitete sich in ihrem Gesicht aus, und sie sprang voraus in sein Zimmer, um den Laptop zu holen. Er folgte ihr, denn dort war auch noch sein BMX-Fahrrad, das aus Sicherheits- und Platzgründen dort unterkommen musste.

Die kleine Wohnung war viel zu eng, genauso wie der gesamte Gebäudekomplex. Gespart wurde, wo es ging. Zumindest hatten sie kein Problem, am Ende des Monats die Miete zusammenzubekommen und das obwohl sie den Englischen Garten fast vor der Haustür hatten.

„Dann bis morgen. Geh nicht zu spät ins Bett!", verabschiedete sich Rico, als Fee samt Laptop in ihrem Zimmer verschwand. Vom Wohnzimmer her kam der Gesang ihres Vaters. Rico versuchte, die Musik auszublenden.

Felina kam zurück. „Ja, und du, trink nicht zu viel. Viel Spaß!"

„Dir auch." Rico grinste, dann schleppte er das Fahrrad ein Stockwerk nach unten. Dort erwartete ihn eine schwüle Sommernacht, die nach Abgas und Pisse stank. Schnell schwang er sich auf den Sattel und trat in die Pedale, um aus dem Viertel herauszukommen.

Wie üblich benutzte er die Abkürzung durch den Englischen Garten. Er raste quer über den Rasen und dann hinein in den Wald, wo er einem Trampelpfad folgte. Zwischen den Bäumen war es schon stockfinster.

In einem nahen Teich waren Frösche zu hören, und irgendwo vor ihm hörte er ein Rascheln. Er beachtete es nicht lange.

Doch dann leuchtete zwischen den Sträuchern plötzlich ein weißes Hemd auf. Eine Gestalt drehte sich zu ihm, da war Rico schon an ihr vorbei. Verwirrt sah er zurück. War das gerade Hendrik gewesen? Der Idiot aus seinem Jahrgang? Oder nur jemand mit demselben spießigen Mittelscheitel?

„He!" Ein Mädchen. Rico wirbelte herum, bremste, zu spät.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now