63 Viscerocranius

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Es war seltsam, wie sich manchmal wenige Sekunden wie lange Minuten anfühlen konnten. Rico hatte das Gefühl, in einer Blase zu stecken, die nur stark verlangsamt Informationen von der Außenwelt zu ihm durchdringen ließ.

Das erste, was er noch unmittelbar realisierte, war, dass sein Vater geschossen hatte. Zweimal, laut, ohne zu zögern.

Lautes Schreien war das zweite. Es kam aus verschiedenen Richtungen vor ihm, und vielleicht hatte Rico auch selbst aufgeschrien, das konnte er gar nicht so genau sagen.

Seine Ma hatte geschrien. Viscerocranius tat es immer noch.

Rico sah, dass der Typ getroffen worden war. Am rechten Arm, den er sich mit der linken Hand hielt. Seine Waffe war auf den Boden gefallen, in all dem Trubel lag sie dort und wirkte irgendwie fehl am Platz.

Gleichzeitig kämpfte der Typ mit seinem Gleichgewicht. Immer wieder hob er das linke Bein, es zuckte, blutete. Knapp ober dem Knie wurde seine Hose immer dunkler.

Rico starrte dorthin, selbst in der Finsternis konnte er das Blut beobachten. Seine Augen gewohnten sich bereits an das schwache Licht, so wie Rico auch langsam begriff, was geschehen war.

Sein Pa hatte bewusst den Arm und das Bein getroffen. Jedenfalls ging Rico davon aus, dass es Absicht gewesen war. Es machte Sinn, irgendwie. Nicht tödlich, aber genug, um zu gewinnen.

Und das sickerte noch langsamer in seinen Kopf. Sie würden gewinnen. Konnte das gerade wirklich geschehen? Konnte das alles gerade in nicht einmal zwei Sekunden passiert sein?

„Es ist noch nicht aus!", zischte Viscerocranius und versuchte krampfhaft, nicht das Gesicht vor Schmerzen zu verziehen. Er humpelte etwas zurück, sein Blick fiel auf die Waffe am Boden.

Prompt stürzte Rico vorwärts, dorthin. Noch bevor sich der Ententyp ganz hinuntergebeugt hatte, war Rico zur Stelle. Er griff nicht zur Waffe, kickte sie nur weg. Traf dabei auch Viscerocranius' Hand.

Der schrie auf, richtete sich wieder auf. Rico stolperte rückwärts von ihm weg, weg von dem Geruch nach frischem Blut.

„Zurück, Rico", sagte sein Pa streng. Er hielt immer noch die Waffe in der Hand, zielte immer noch auf Viscerocranius und sagte: „Hände hoch."

Viscerocranius tat es, halb, denn er hielt sich auch wieder den blutenden Arm. Sein Gesicht war blass, mit roten Flecken, aber da war keine Wut, keine Verzweiflung. Jedenfalls keine, die eindeutig ersichtlich gewesen wäre. Nur ein leichtes Schmunzeln.

Rico hielt die Luft an, ging noch ein paar Schritte rückwärts. Dabei stieß er gegen eines der Regale und er dachte an all die potenziellen Bomben. Wie wurden diese ausgelöst?

„Was grinst du?", paffte Fill. „Glaub ja nicht, ich könnte dich nicht richtig erschießen. Wenn du richtig über mich recherchiert hast, dann weißt du, dass ich es ernst meine."

Rico hob erschrocken den Kopf. Stimmte das? Würde sein Vater das können, was er nicht konnte? Einen Menschen töten? Rico wusste es nicht, jedenfalls nicht sicher. Da waren diese verschwiegenen Geschichten um Guillermo, aber da war auch der Fakt, dass sein Vater durchaus ein guter Schauspieler war.

„Bezweifle ich nicht." Viscerocranius zuckte mit den Schultern. „Genauso wie ich nicht bezweifle, dass ich gewinne."

„Wie?", fragte Fill.

„Das Internet vergisst nicht. Ganz einfach."

„Was meinst du?"

Weil Viscerocranius nur siegreich grinste, erklärte es Rico, der verstanden hatte: „Alle werden dieses Video, das gerade aufgenommen wird, immer wieder posten und teilen. Es wird uns verfolgen, denn das Internet vergisst nicht. Und jetzt weiß ich auch wieder, woher ich dich kenne."

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now