44 Eine Verhaftung

64 10 9
                                    

Viktoria war nicht stark. Sie hatte die letzten Kräfte aufgebracht, als sie in diesem Krankenbett gelegen war und sich mit Fill gestritten hatte. Immer wieder war er es, der sie am Ende zerstörte.

Früher hatte er behauptet, er würde sie beschützen. Das war lange her und vielleicht hatte er sie vor Fremden geschützt, aber nicht vor ihm selbst.

Fill hatte sie geschlagen, wenn er betrunken war und nicht bekam, was er wollte.

Damals war Viktoria noch stark gewesen. Sie hatte gekämpft, für Rico, der seinen Vater vergöttert hatte. Für sich selbst, denn sie war von der Beziehung zu ihm abhängig. Finanziell, sowie emotional. Ein Leben ohne Fill kam erst in Betracht, als sie ein zweites Mal schwanger geworden war.

An dem Abend, als sie ihm davon erzählen wollte, war er schlecht gelaunt gewesen. Also hatte er getrunken und Drogen genommen, um dann Viktoria zu schlagen.

Rico hatte gebrüllt und gekreischt, hatte nicht aufgehört seine Mutter beschützen zu wollen. Sein Lärm hat Fill nur wahnsinniger gemacht und dann hatte er ihn geschlagen, den kleinen Jungen.

Ein einziges Mal war das geschehen, aber das hatte gereicht um Viktoria die Augen zu öffnen.

Sie packte alles zusammen und verschwand mit Rico, noch bevor sie Fill von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte. Es dauerte Jahre, bis er von seiner zweiten Tochter erfuhr und nun wiederholte sich alles.

Wieder schwebten ihre Babys in Gefahr und Fill war Schuld.

Aber Viktoria war schon seit Jahren nicht mehr stark. Sie funktionierte nur, überlebte den Alltag und schien aktiv, aber innerlich war sie zerfressen und tot. Das mit Tom hätte nie funktionieren können, denn sie brachte keine Beziehung auf die Reihe.

Fill, das Schicksal oder irgendetwas anderes war Schuld daran, dass sie nicht lachte, wenn sie lachte.

Wahrscheinlich waren es die Depressionen, die sie nicht behandelte. Vielleicht war es das Verdrängen und dass sie nie darüber sprach.

Jetzt war Fill wieder da, und Rico nicht. Felina war womöglich tot und ihre letzte Hoffnung war, dass die Kleine wider aller Wahrscheinlichkeit noch lebte. Daran klammerte sie sich, als sie sich aus dem Krankenhaus stahl und mit einem Taxi zu Tom fuhr.

Sie wusste nicht, wie die Polizei vorging, aber sie beschloss, die Liste selbst abzuarbeiten. Vielleicht war es das letzte, das sie antrieb, und vielleicht war es gut so, dass da etwas war, was sie überhaupt antrieb.

Bald stand sie vor Toms Haustür und presste den Finger auf die Klingel neben seinem Namen. In dem Gebäude lebten über zehn Parteien und mindestens eine davon hörte gerade so laut Musik, dass der dumpfe Bass zu hören war.

Die Haustür surrte und Viktoria drückte sie auf. Seine Wohnung war im vierten Stockwerk und statt dem Fahrstuhl, der ihr wegen seines hohen Alters zu unheimlich war, stieg sie die vielen Stufen hinauf und mit jedem Schritt wurde sie langsamer.

Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie wischte ihre Hände an ihrer Jeans ab. Schwindel überkam sie, und am Geländer festhaltend erreichte sie sein Stockwerk.

„Dachte ich mir doch, dass du das bist. Alle anderen benutzen den Aufzug", begrüßte Tom sie fröhlich. Er lehnte entspannt im Türrahmen zu seiner Wohnung, mit den Händen in den Hosentaschen. Das weiße Hemd hing locker über seinen Oberkörper und ließ ihn gut aussehen.

Viktoria blieb stehe und sah ihn an. Ihr Atem ging schnell und in ihrem Kopf kreisten Formulierungen und Fragen, die sie Tom an den Kopf werfen wollte. Trauen tat sie ihm nicht.

„Alles in Ordnung bei dir?", fragte er da.

Sie zuckte zusammen, dann erwiderte sie harsch: „Hast du es irgendwem erzählt?"

Tom runzelte verwirrt die Stirn. „Hä?"

„Hast du?", beharrte Viktoria auf ihrer Frage.

Tom stellte sich jetzt gerade hin und kam einen leichten Schritt auf sie zu, ehe er sich am Kopf kratzte. „Hab ich was erzählt? Von uns?"

„Von ihm. Von Fill. Ich meine, dass er Cielo ist. Hast du irgendwem erzählt, wer wir sind? Wer Ricos und Felinas Vater ist? Hast du?"

„Nein, natürlich nicht." Tom schien verärgert und gleichzeitig noch immer verwirrt. Es war schwierig zu sagen, ob er log oder nicht. Viktoria konnte es nicht deuten und das verunsicherte sie.

„Wieso hätte ich das jemanden erzählen sollen?"

„Warum hättest du es für dich behalten sollen?", warf Viktoria zurück. Ihre Stimme war laut geworden und der Widerhall im Treppenhaus ließ sie zusammenzucken.

Tom starrte sie ausdruckslos an und schüttelte dann leicht den Kopf. „Willst du gerade wirklich mich beschuldigen? Glaubst du ehrlich, ich entführe Felina? Warum sollte ich das tun? Wie sollte ich das tun?"

Das Warum und Wie war ihr egal. Wäre er es gewesen, dann hätte sie vielleicht jetzt Felina in den Arm schließen können und so gab es wieder nichts, was sie näher zu ihrer Tochter führen würde. Verzweiflung überkam Viktoria. Sie wollte heulen und sie wollte schreien, aber sie starrte ihn nur an.

„Ich verspreche es dir, Viktoria, ich habe es niemanden erzählt." Tom hob die Finger, um sie wie bei einem Schwur zu überkreuzen, aber das half ihr nicht weiter, sondern wollte alles nur noch schlimmer machen.

Das Rattern des Fahrstuhls war zu hören, als Tom zur Seite trat und vorschlug: „Komm doch erst mal herein."

Viktoria zögerte und dann stoppte der Aufzug in ihrem Stockwerk, die Türen gingen auf. Im Inneren standen zwei Polizeibeamte, gemeinsam mit Kommissarin Fenchel. Die marschierte entschlossen zu ihnen und blieb vor Tom stehen.

„Tom Flieder? Sie sind verhaftet wegen des dringenden Tatverdachts, bei der Entführung von Felina Stern beteiligt zu sein."

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu