57 Definiere 'gut'

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"Und was ist", fragte Fill herausfordernd, "wenn ich das hier tue?"

Mit einem schnellen Schritt stand er vor der Kamera und presste auf den Knopf, den er gut genug kannte. Das rote Lämpchen erlosch sofort und das Video war zu Ende.

Der Psychopath auf der anderen Seite lachte nur. Mit einer Hand in der Jackentasche drückte er wohl etwas, denn prompt gingen noch weitere Lichter an. Der ganze Raum erhellte und Fill musste blinzeln, aber dann erstarrte er.

"Holy Crap."

Mit offenem Mund drehte er sich um, während sein Blick durch den Raum glitt. Überall hingen Kameras und zugehörige Kabel.

Überwiegend typische Überwachungskameras, teilweise auch andere Modelle. Mindestens zwanzig Stück, wenn nicht weit aus mehr. Und sie alle zeigten kreuz und quer durch die Halle, ohne Hinweis auf einen möglichen toten Winkel.

"Wie viele sind das?", flüsterte Viktoria. Fill drehte sich zu den beiden um, die staunend an die Decke und an die Regale starrten.

Da sah Felina zu ihm herüber, das Gesicht leicht verkniffen, schweigsam und so ernst. So erwachsen. Es machte Fill Angst. Was hatte sie erlebt? Was hatte dieser Wichser mit ihr getan?

Die Wut schlug blitzartig in Fill ein und er wollte den Mistkerl anbrüllen. Er wollte ihn schlagen, bis das Blut kam, bis er nie wieder etwas Derartiges tun konnte.

Nur war er verschwunden.

"Wo ist er hin?" Fill rannte los, dorthin, wo er den Kerl als letztes gesehen hatte. Hinter einer Kiste, die mit vielen Glassichtsfolien umwickelt war, entdeckte er eine Tür. Sie war geschlossen, und Fill musste sich durch einen Kabelsalat kämpfen, um dorthin zu gelangen.

"Meinst du, der Moderator steht die ganze Zeit auf der Bühne?", drang es da aus einem Lautsprecher. Das wahnsinnige Gelächter folgte.

"Ja, das meine ich!" Fill versuchte, so viel Selbstbewusstsein wie möglich auszustrahlen. Ob das klappte, wusste er nicht.

"Nein, nein. Euch gehört die Bühne, verwaltet euch ganz natürlich."

"Ah, ja? Und was sollen wir machen?"

"Reagieren."

Als er das gesagt hatte, begann vorne die Eingangstür zu surren. Jetzt war sie nicht verschlossen, und Viscerocranius hatte Recht. Ja, sie würden reagieren. Viktoria und Fill rannten gleichzeitig los, dorthin, zum Ausgang.

Viktoria hatte den kürzeren Weg, doch es brachte nichts. Kurz bevor sie die Tür erreichte, stoppte das Surren.

Viscerocranius lachte wieder, während Viktoria fluchend gegen die Tür schlug, die nicht aufging. "Der verarscht uns doch völlig."

Erschöpft legte Fill den Kopf in den Nacken und versuchte krampfhaft nach einer Lösung. Er dachte daran, dass Lars draußen auf sie wartete, dass dieser die Polizei rufen würde. Außerdem wurde das alles aufgenommen, womöglich live, womöglich hatten sie jetzt gerade Zuschauer.

Ehe er ein zweites Mal darüber nachdachte, rief er schon laut die Adresse. Er beschrieb den Ort, die Lagerhalle, und bat um Polizei. Das tat er auf Deutsch und auf Englisch, wer wusste schon, wohin das übertragen wurde.

Als er fertig war, erklang wieder Viscerocranius' Stimme: "So, ich schalte die Tonübertragung wieder ein. Nochmal so eine Scheiße, und es gibt Konsequenzen."

"Konsequenzen?" Fill belächelte ihn und wollte etwas kontern, ihn auf Augenhöhe behalten. Doch in diesem Moment schloss sich eine kleine Kinderhand in seine.

Felina stand neben ihn, drückte sich an ihn. Seine Hand hatte sie ganz fest gedrückt, ja es war so, als wollte sie sich an seiner Seite verstecken.

Und Fill verstand. Konsequenzen bedeuteten nichts Gutes, und egal was es war, seine Tochter sollte es nicht erleben müssen.

Also sah er von Felina weg, nach oben in irgendeine der Kameras und fragte: "Und was sollen wir sonst tun?"

"Oh, erzählt doch mal. Zum Beispiel, würde es mich sehr interessieren, was es mit deiner Mel auf sich hat."

"Mit wem?" Oh. Fill fiel es wieder ein, noch während er nachgefragt hatte. Die junge Sängerin, ein Fehler, seit er wusste, dass Rico deren jüngere Schwester kannte.

"Melissa Saller", wiederholte Viscerocranius den vollen Namen. "Sag mir nicht, du erinnerst dich nicht einmal mehr an sie."

"Doch, doch. Das war nur ein überraschender Themawechsel."

Fill spürte wieder Felinas Hand, die sich etwas bewegte und jetzt zu ihm hochsah. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich Fragezeichen, bis sie zu ihrer Mutter hinübersah, die ein paar Schritte näher kam.

Felina schien zu überlegen, ob sie zu ihr rüber lief oder lieber bei Fill blieb, zumindest dachte Fill, dass das in ihrem Kopf vorging.

Nur dann sah sie wieder zu ihm hoch und sagte mit einer Selbstverständlichkeit, die beängstigend war: "Du musst tun, was Dagobert sagt, du musst von ihr erzählen."

"W-Was?" Fill blinzelte. "Dagobert?"

"Ja. Sonst wird er böse."

"Ich äh. Okay. Äh." Shit, was hatte dieser Kerl schon alles mit ihr angestellt? Wie viel davon würde Felina womöglich nie erzählen?

"Er hat mit ihr geschlafen", spukte es Viktoria aus. Ihr verachtender Ton tat weh, war aber wohl gerechtfertigt. Das sah Fill inzwischen ein.

"Was? Wann?" Felina hatte seine Hand losgelassen und stand jetzt vorwurfsvoll vor ihm. Ihr Gesicht war vor Ärger verkniffen, und doch war sie immer noch super süß. Wieso musste Fill ihr jetzt weh tun? Wieso brachte er es nicht auf die Reihe zuzugeben, dass er Felinas Mission nicht durchgezogen hatte? Dass er stattdessen mit einer anderen Frau verkehrt hatte?

"Irgendwann vor ein paar Tagen, ist doch egal", murmelte Viktoria. "Fakt ist, dass er sich nicht geändert hat."

Das reichte Fill. Er trat energisch auf Viktoria zu und brüllte: "Ich hab mich sehr wohl geändert!"

"Klar." Viktoria verdrehte genervt die Augen und winkte ihrer Tochter herbei. Die blieb jedoch still stehen und sagte gar nichts mehr.

"Würde ich sonst hier stehen?", zischte Fill. Das Blut schäumte in ihm, er war bestimmt knallrot im Gesicht vor lauter Wut - und Scham.

Denn ja, das mit Mel war ein Fehler. Es war ihm peinlich und noch peinlicher war es, jetzt vor allen Kameras darüber zu reden.

"Verfluchte Scheiße", brüllte er deshalb und stampfte an Viktoria vorbei zum Ausgang. Mit einem lauten Knall trat er gegen die Tür, die sich kein Stück rührte.

Hinter ihm quiekte Felina vor Schreck auf, und Viktoria rief auch etwas, wollte ihn aufhalten. Aber Fill hörte nicht auf sie.

Da war nur all die Wut und der Frust, den er gerade abbaute. Vermutlich sollte er auf Viktoria hören und aufhören, die Tür mit bloßer Gewalt zu öffnen. Wahrscheinlich sollte er auch daran denken, wie Viscerocranius von Konsequenzen gesprochen hatte.

Denn dann knallte es.

Einmal kurz und laut, dann war da Rauch und Pappkartonfetzen flogen durch die Luft. Ein Stück Karton brannte, und Viktoria schrie vor Schmerzen.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now