60 Die Waffe

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"Wir gehen da jetzt einfach hinein?", hakte Rico nach. "Sollten wir nicht lieber die Polizei rufen?"

Lou, die ihm vorausgegangen war, blieb jetzt stehen und drehte sich um. Hinter ihr war bereits das große Tor zu sehen, das den Blick auf das Grundstück verdeckte. Die Kamera blinkte und Rico war sich unsicher, ob sie bereits gefilmt wurden. Weit genug weg waren sie wahrscheinlich noch, aber wer wusste, wie viele Kameras hier draußen waren?

Es raubte ihm das letzte Bisschen Mut, der Grund, weshalb er stehen geblieben war.

Lou schien von ihrem Plan immer noch überzeugt, jedenfalls sagte sie ziemlich entschlossen: "Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Er bringt deine Familie um."

"Ja. Naja." Er zögerte immer noch. "Das Problem ist nur, wenn ich da jetzt hineingehe, bringt er uns alle um. So würde wenigstens einer überleben."

"Nicht dein Ernst, oder?" Lou zog die Augenbrauen hoch. "Das willst du deiner Familie antun? Wenn du nicht reingehst, sterben sie erst Recht. Wer weiß, vielleicht hat er ja wirklich nur eine kranke Show geplant, ohne weitere Tote."

"Wieso ist dir so wichtig, dass ich da reingehe?"

Er wollte es nicht zugeben, aber Lou machte ihn genauso Angst wie alles auf dem Grundstück hinter ihr. Seitdem sie gesagt hatte, sie könnte ihn leicht manipulieren, beschäftigte ihn das. Denn das war die Wahrheit. Er tat, was sie sagte, und sie lockte ihn zu dem Wahnsinnigen. Das war doch krank.

"Deine Familie stirbt sonst?", sagte sie.

"Das ist dein einziges Argument?"

"Worauf willst du hinaus?"

"Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann", gab Rico schließlich zu. Er zuckte mit den Schultern und wollte so tun, als wäre es keine große Sache. Obwohl es das sehr wohl war.

Lou bemerkte das auch. Sie schwieg, dachte nach. Das beruhigte ihn nicht gerade. Überlegte sie sich eine passende Ausrede? Eine Begründung, warum er ihr vertrauen sollte? Er wusste es nicht, und Lou schien es auch nicht zu wissen.

Unschlüssig standen sie sich gegenüber, bis sie leise murmelte: "Ich will dir nur helfen. Ehrlich. Als ich das vorhin am Telefon gesagt habe ... das ... das war nur so gesagt. Um diesen Spinner zu überzeugen, uns eine Adresse zu nennen. Wenn du willst, können wir auch die Polizei rufen, aber ich weiß nicht, wie die uns helfen kann ohne dass deiner Familie etwas passiert."

"Nur so gesagt, ja?" Nur so mal nebenbei ausgesprochen, dass sie seine Gefühle für ihn kannte. Und dabei keinerlei Information gezeigt, ob sie auch etwas für ihn empfand. Weggelaufen war sie ja nicht, aber ... mehr war da auch nicht. Oder?

Lou verdrehte jetzt die Augen. Sie wollte nicht darüber reden. War das jetzt gut oder schlecht? Und wieso war es so verdammt schwer, herauszufinden, was sie dachte?

"Gehen wir jetzt rein, rufen wir die Polizei oder was machen wir jetzt? Wir können auch Sam sagen, er soll die Polizei hierher rufen", erinnerte Lou ihn wieder an das eigentliche Thema.

Rico runzelte die Stirn, war kurz irritiert. Dann antwortete er: "Oder wir rufen Lars an."

"Das war gleich nochmal wer?"

Während er bereits sein Handy herausholte und den Flugmodus löste, erklärte er es ihr. In der Zwischenzeit trudelten mehrere Nachrichten ein, über die Hälfte davon von Lars - was wirklich viele waren, denn alle wollten ihn auf die Live-Übertragung seiner Eltern hinweisen. Das Handy brummte und brummte. Als es endlich still war, rief er Lars an.

Dort musste er erst einmal einiges erklären. Zum Beispiel, was er gedacht hatte, als er aus dem Hotel abgehauen war und wo er jetzt war. Ob er wüsste, wo Brenners Waffe war. Und danach kam die Standpauke.

"Verdammt, Rico", fluchte Lars. "Wir sind vom schlimmsten ausgegangen!"

"Tut mir ja leid." Er hätte tatsächlich eine Nachricht hinterlassen können, das stimmte, daran hatte er gar nicht gedacht. Die ganze Aktion, die bereute er nicht. Immerhin stand er vor dem Gebäude und wusste, wo Felina war. Das war ein echter Fortschritt.

"Bleib, wo du bist. Wir kommen."

"Okay, das ist in der-"

"Ich weiß, wo das ist", schnitt Lars ihm das Wort ab. Er wollte wohl auflegen, aber Rico kam ihm zuvor: "Du weißt, wo das ist?!"

"Äh. Ja." Lars fluchte wieder. "Ich hätte die Polizei rufen sollen, aber dann warst du weg und Brenners Waffe. Verdammte Scheiße. Ich rufe sofort die Polizei!"

"Nein!", platzte es aus Rico heraus. "Dann jagt er das ganze Gebäude in die Luft."

"Du hast ja viel Vertrauen zur Polizei."

"Das ist nur das, was er gesagt hat", murmelte Rico. "Und ich traue ihm das zu."

"Brenner und ich kommen trotzdem." Lars klang nicht so, als würde er darüber diskutieren. "Bleib draußen, okay? Geh nicht rein, das ist zu gefährlich. Warte einfach! Ja?"

"Klar." Bestimmt. Rico verdrehte die Augen und verabschiedete sich von dem Sicherheitschef, der seine Anweisungen sonst noch zehnmal wiederholt hätte.

Nachdem Rico aufgelegt hatte, stellte er sein Handy wieder auf Flugmodus - die vielen Nachrichten nervten echt. Neben ihm räusperte sich Lou. Als er aufsah, hielt sie ihm ihr Handy hin, sprach aber noch zeitgleich den Inhalt der eingegangenen SMS aus:

"Wenn wir in den nächsten fünf Minuten nicht auftauchen, bist du Halbwaise."

"Na, dann. Okay. Lass uns reingehen."

Über diese Aussage zog Lou überrascht die Augenbrauen hoch. "Woher der Sinneswandel?"

Eher, woher der Mut, verbesserte sie Rico in Gedanken, schwieg aber. Er wollte nicht zugeben, dass er nur Schiss hatte. Und dass die Vorstellung, Lars und Brenner als Rückendeckung zu haben, ihn etwas erleichterte. Genauso wie die Erinnerung, dass er Brenners Waffe bei sich hatte.

Und dann dachte er daran, wie seine Ma lachte. Wie sie kochte und wie sie abends zusammen fernsahen. Sie mochten dieselben Filme, meistens, aber seitdem er sich ein Netflix-Abo leistete, sahen sie weniger gemeinsam. Felina nutzte den Account auch oft, deswegen lieh sie meistens seinen Laptop aus, oder die Geschwister sahen zusammen einen Film an, wenn ihre Ma arbeiten war.

Hin und wieder spielten sie auch alle gemeinsam Lego. Dann bauten sie einen hohen Turm oder komplexe Häuser, je nachdem wie lange die Teile reichten.

Oh, Mann. Er vermisste sie.

Mit diesem Gedanken ging Rico los, betrat das Grundstück voller Bomben. Die Hände hatte er um die Waffe geschlossen. Er wollte nicht sterben, ohne Gerhardt nicht wenigstens schwer zu verletzen. Und das war so ungefähr sein ganzer Plan.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now