51 Unberechenbar

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Viktoria hatte sich ein wenig hingelegt, aber sie konnte nicht einschlafen. Das Kissen war unbequem, der Raum zu still und ihr Kopf zu laut. Vielleicht wollte sie sich gar nicht umbringen, vielleicht brauchte sie nur ihre verfluchten Schlaftabletten!

In ihrem Frust rutschte sie in dem fremden Bett herum. Ihre losen Haarsträhnen kitzelten in ihrem Nacken, und das Kissen erst - es war zu fest und es roch nach irgendeinem starken Waschmittel. Mittendrin warf Viktoria es auf den Boden.

Jetzt konnte sie noch weniger einschlafen, und so stand sie schlecht gelaunt auf. Drüben im Wohnbereich der Hotelsuite schlief auf dem Sofa Brenner, da konnte man neidisch werden. Sein Kopf war nach hinten gefallen und ein leises Schnarrchen kam von ihm. Neben ihm auf dem Sessel saß Lars und starrte in sein Handy. So wie er hin und her wischte, spielte er etwas.

"Gibt es etwas Neues?", fragte Viktoria und räusperte sich, weil ihre Stimme immer noch kratzig war und nicht besser werden wollte. Es frustrierte sie.

Lars sah nur kurz auf und schüttelte den Kopf. "Soll ich was zu Essen bestellen?"

"Hm, keinen Hunger." Viktoria wandte sich ab und ging ein paar Schritte auf die Fenster zu. Über der Stadt hatten sich dunkle Regenwolken gebildet, nur weit weg am Horizont leuchtete ein Streifen blauer Himmel.

"Du solltest etwas essen."

"Später", fand Viktoria. Im selben Moment begann ihr Handy zu vibrieren, als hätte es gewusst, dass sie jetzt das Schlafen aufgegeben hatte. Sie griff danach und las Fills Namen. Auf ihn hatte sie jetzt keine Lust. Und doch, es könnte wichtig sein. "Hallo Fill."

"Hi Vik." Diese Stimme, tief und irgendwie kratzig, als hätte er zu viel geraucht, zu viel gesungen. Sie kannte diese Stimme und sie hasste es, dass es noch immer ihre verfluchten Hormone durcheinanderwirbelte.

„Wie geht es dir?", wollte er wissen, aber diese Frage mochte sie nicht. Entweder sie würde lügen oder sie würde ihm etwas erzählen müssen, was ihm nichts anging. Deshalb erwiderte sie stattdessen: „Bist du schon gelandet?"

„Nein, aber bald. Sind schon über Frankreich."

Einen Moment sagte niemand etwas. Viktoria wollte nicht mit ihm reden, wenn er nichts Dringendes zu sagen hatte - und das hatte er wohl nicht, denn sonst würde er endlich mit der Sprache herausrücken. Stattdessen fragte er: „Was machst du gerade? Wo bist du?"

„In der Hotelsuite", gab Viktoria widerwillig zu. Wollte er jetzt ernsthaft Smalltalk führen? Konnte er vergessen. „Warum hast du angerufen?"

„Weil ... weil ich hier sonst durchdrehe. Ich ... ich wollte nur hören, ob es dir gut geht."

„Geht es mir aber nicht, was erwartest du?"

„Ich meine doch nicht 'gut' im Sinne von 'hervorragend', sondern nur der Situation bedingt."

Viktoria presste die Kiefer aufeinander, um nicht loszuschreien, und weil sie eben nicht antwortete, fuhr Fill unbeirrt weiter. „Sozusagen eine Umschreibung der Frage, ob es dir genauso beschissen geht wie mir. Weil mir geht es nämlich verdammt beschissen."

Sie schloss die Augen, atmete tief ein und beschloss dann, sich ihm nicht völlig zu verschließen. Gerade mussten sie da beide durch, irgendwie, und sein Geplapper war irgendwie niedlich. Wie früher, wenn er nervös war, wenn es ihm wichtig war.

„Mir auch", nuschelte Viktoria schließlich und musste dabei fast lächeln.

„Dann sind wir immerhin schon zu zweit. Ist Rico bei dir? Wenn es ihm ähnlich geht, wären wir zu dritt."

„Ich ... ich weiß nicht." Viktoria sah sich im Raum um und spitze zeitgleich die Ohren, konnte aber nichts hören. „Vorhin war er hier, aber ich habe mich etwas hingelegt und bin gerade erst wieder aufgestanden. Vielleicht hat er sich auch irgendwohin zurückgezogen. Keine Ahnung, Lars weiß es sicher."

Der sah jetzt auf, hatte die Ohren gespitzt, doch Viktoria wollte zuerst das Telefonat beenden, weshalb sie sich von dem Sicherheitschef abwandte und weiter aus dem Fenster sah. An der Scheibe hingen jetzt ein paar kleine Tropfen. Es hatte zu regnen begonnen.

„Okay." Fill schwieg einen Moment. „Hoffentlich ist er nicht wieder ohne Sicherheitspersonal abgehauen. Wenn Guillermo tatsächlich in dem Punkt Recht hat, dass wir es mit einem Psychopathen zu tun haben, dann ist der unberechenbar."

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"V hidden in dark net. Found connection to friend of V: Tom Flieder. He followed, was first to comment a year ago, then more and more, maybe even met, but seems like no more contact since December. Tom Flieder went home from police this midday. Not surepolice men know connection, tell 'em. -anonymous"

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Völlig bescheuert war Rico, aber das sollten alle erst später herausfinden. Jedenfalls nicht jetzt, wo Rico die Waffe von Brenner geklaut hatte und wieder einmal aus dem Hotel abgehauen war. Zu seiner Verteidigung würde er wahrscheinlich sagen, dass er nicht darüber nachgedacht hatte, sondern einfach nur handeln wollte. Eine Art Kurzschlussreaktion, sozusagen. Es würde sein Strafmaß nicht lindern, aber das war egal.

Vorhin war die erste brauchbare Antwort auf ihr Video gekommen. Lou, Sam und er hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die vielen Reaktionen durchzugehen, und Lou hatte sie entdeckt. Eine Nachricht, auf Englisch, von irgendjemanden.

Und weil die Polizei diese Nachricht nicht ernst genommen hatte, war Rico sauer geworden. Am Telefon hatte er sich mit dieser gefühlslosen Kommissarin Fenchel gestritten, und dann kam diese Kurzschlussreaktion. Es war ziemlich bescheuert.

Nur war es jetzt auch schon zu spät. Die Pistole hielt er unter seinem Pullover versteckt, als er durch die Stadt fuhr. Die U-Bahn brachte ihn nah genug, dann lief er zu Fuß weiter, durch den Regen, bis er vor der Wohnung von Tom Flieder stand. Er war hier schon einmal gewesen, vor Jahren, betrunken, an Halloween mit ungekochtem Eier. Damals waren seine Freunde und er auch dumm gewesen, aber jetzt war Rico allein. Niemand würde ihn aufhalten.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now