46 Heldenspiel

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Eigentlich wusste Fill, wie dämlich es war. Vielleicht hatte Guillermo gesagt, er soll zu Rudis kommen, aber das war womöglich ein Witz gewesen. Nur war das jetzt auch schon egal.

Er hatte den Privatjet genommen, nach Los Angeles. Seine Angestellten hatten das Motorrad zum Flughafen gebracht und jetzt raste Fill durch die Straßen der Stadt. Letzteres war auch bescheuert. Er fuhr zu schnell.

Der Fahrtwind schlug ihm hart gegen den Helm, gegen den Oberkörper und die Finger, die trotzdem nochmal Gas gaben. Irgendwohin musste er seinen Dampf ja ablassen.

Er hatte nicht Angst vor einem Sturz oder vor dem übrigen Verkehr, der ihm gefährlich werden konnte. Das war nur frische Luft schnappen, raus aus seinem Leben. Die endliche Ewigkeit spüren.

Fill biss die Zähne zusammen und sein ganzer Körper war voller Spannung, als er die Kurve sehr scharf nahm, dabei die Gegenspur schnitt. Kein Gegenverkehr, keine Gefahr, nur die Geschwindigkeit, die er nicht drosseln wollte.

Vom Flughafen bis zu Rudi waren es höchstens dreißig Minuten, bei Fills Tempo weitaus weniger. Eine Ampel schaltete auf grün, jemand hupte. Raue Häuserfassaden auf der rechten Seite. Irgendein Exporthändler machte Werbung für sein Unternehmen. Links der Gegenverkehr und ein Stück Wiese. Dürre Sträucher, unspektakulär.

Die Sonne brannte vom Himmel, aber er realisierte den heißen Nachmittag nicht. Er befand sich in einer anderen Zeitzone, körperlich sowie geistig. Eigentlich war er gar nicht in Kalifornien.

Die Kreuzung kam schneller als erwartet, er legte sich in die Seite. Ein Fußgänger sah sich um, winkte. Da der Gegenverkehr. Ein roter Pick-Up. Die Reifen quietschten auf dem Asphalt. Fill bremste, wich haarscharf aus, schoss davon. Der andere hupte und jemand brüllte, aber da war er schon wieder weg.

Nur der Schock blieb. Fill hatte Glück gehabt, nur etwas Dussel. Das nächste Mal vielleicht nicht und das war nicht wie früher, als ihm das alles egal war.

Er hätte sich damals umbringen können. Im Gefängnis oder in der Zeit danach, und doch hatte er das nie ernst gemeint. Früher war alles irgendwie einfach, schwerelos. Heute nicht mehr. Er dachte an Felina. An Rico und Viktoria und daran, wie er endlich Verantwortung übernehmen wollte. Wie er einmal ein Held sein wollte. Für seine Familie.

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Als Rico das Zimmer betrat und seine Ma im Bett liegen sah, stolperte er über seine eigenen Füße. Wie sollte er reagieren? Er wollte wütend sein und sie verfluchen, aber gleichzeitig wünschte er sich nichts sehnlicher als dass sie ihn in den Arm nahm und ihm sagte, dass alles gut werden würde. Nur konnte er das ihr nicht glauben, selbst wenn sie es getan hätte.

Stattdessen schenkte sie ihm ein zaghaftes Lächeln, kurz jedenfalls, dann sah sie weg und er sah weg und niemand sagte etwas, obwohl Rico sich vorgenommen hatte, stark zu sein. Vielleicht kein Held, aber zumindest ein tapferer Schauspieler, der Viktoria glauben ließ, dass es ihm gut ging. Nur, damit sie keine weiteren Sorgen hatte.

Brenner weihte Viktoria indes über die weiteren Neuigkeiten ein und sonst sprach niemand etwas. Lars hing am Handy, Viktoria aß irgendeine Krankenhausmahlzeit. Nur Rico stand völlig verloren im Raum herum, bis ihn seine Ma leise fragte: „Rico, geht es dir gut?"

So viel dazu, ein guter Schauspieler zu sein, und jetzt packte ihn auch noch der Frust und der ließ ihn motzen. „Eine ehrliche Antwort? Nein. Aber zumindest gebe ich nicht auf."

„D-Das ..." Sie stockte und schwieg wieder.

Ein mitleidiger Blick von Brenner rettete die Situation auch nicht und so wandte sich Rico nur von allen ab und setzt sich auf den einzigen Stuhl im Raum. Dort trommelte er unruhig auf seinem Oberschenkel, ehe er fragte: „Wann kann ich nach Hause?"

„Zu Fills Suite? Von mir aus gleich." Lars zuckte von den Schultern und sah zu Viktoria hinüber, als erwartete er eine Erlaubnis von ihr. Die dagegen wollte nur wissen, was mit ihrer eigenen Wohnung wäre.

Genau wie Rico heute Morgen wurde ihr erklärt, dass es dort wegen der Presse gerade schwierig wäre. Aber immerhin hätte sie die Türschlösser bereits wechseln lassen, das war kein Problem mehr und wenn sich in ein paar Tagen alles gelegt haben sollte, konnten sie natürlich wieder heim – mit dem Risiko, immer einen Paparazzo vor der Tür stehen zu haben.

Während dieser Diskussion, in der alle müde klangen, bekam Rico auch noch Kopfschmerzen. Er wollte wirklich nach Hause und sich in ein bequemes Bett verkriechen, wo er über alles in Ruhe nachdenken konnte. Selbst wenn das die Suite seines Vaters bedeutete, und da fiel ihm etwas anderes ein: „Wo ist Fill überhaupt?"

Die beiden anwesenden Männer schwiegen einen Moment, sodass seine Ma zögerlich erzählte: „Er hat behauptet, er holt Felina zurück."

„Ach ja, stimmt. Hat er mir auch versprochen." Wenn gleich auch das noch nicht Fills Abwesenheit erklärte. Deshalb drehte Rico sich jetzt zu Lars um. „Was heißt das, wo ist Fill?"

„In Los Angeles."

„Was?", zischte Viktoria.

Auch Rico riss die Augen auf. Das war verflucht weit weg und klang viel mehr nach einer Flucht seines Vaters. Dieser Arsch. Was will er am anderen Ende der Welt?

„Glaubt er etwa, Fee sei in L.A.?"

Lars runzelte leicht die Stirn. „Er glaubt, Guillermo hat sie und der glaubt, ein Treffen bestimmen zu können. Mal sehen, ob euer Held von dort wieder heil zurückkehrt."

„Unser Held?" Rico schüttelte den Kopf. „Pa ist kein Held. Das war er nie und wird es auch nie sein."

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now