11 Montag

99 21 8
                                    

Die Schulglocke läutete. Rico hetzte durch die Halle, die Treppe nach oben. Seine wilden Locken wippten im Takt. Die Umhängetasche rutschte von seiner Schulter und brachte ihn fast aus dem Gleichgewicht. Sein Körper schmerzte, aber er stolperte weiter.

Zur ersten Stunde, Frau Scheidt. Englischklausur.

Die hatte er total vergessen, und natürlich prompt verschlafen. Die Tusse konnte ihn sowieso schon nicht leiden, sie würde ihm das nie einfach so durchgehen lassen.

Er schlitterte die letzten Meter, blieb stehen. Die Tür war geschlossen. „Ruhe, Klausur!", stand auf einem Zettel, der mit Tesa an das Holz geklebt worden war.

Rico holte Luft, klopfte und trat ein. Sein Atem ging schnell.

Die Tische waren schon auseinander geschoben worden, Papierbögen wurden ausgeteilt. Gespräche plapperten durcheinander, verstummten, als sie ihn erblickten.

„Rico, wie schön, dass du uns mit deiner Anwesenheit erfreust."

Frau Scheidt sah ihn belustigt an. In schwarzen Pumps stand die junge Lehrerin an der Tafel, winkte ihn herein. In ihrer Hand hielt sie noch die Angaben. „Du hast Glück, wir haben noch nicht angefangen."

Rico nickte schwach. Seine Beine bewegen ihn automatisch in die letzte Reihe und führten ihn zu seinem Platz neben Sam.

Der rutschte nur ein Stück von ihm weg, ohne Begrüßung. Er war sauer, und es war ihm nicht zu verübeln. Gestern war Rico überstürzt aufgebrochen und hatte seither jegliche Kontaktaufnahmen seinerseits ignoriert.

Sam erwartete eine Erklärung.

Irgendwer tuschelte, er konnte die Mitschülerinnen hören. Sie flüsterten über sein blaues Auge, kicherten über ihn und über Hendrik, der vorne saß und sein Gesicht unter seinen Händen versteckte. Solange nur das der Tratsch des Tages war und nicht, wieso Cielo Vaz ihn ein, zwei Sekunden zu lange angeschaut hatte.

Als hätte er Rico gekannt.

Das hatte Sam ihm so geschrieben. Und das war die Wahrheit, die nicht ausgesprochen werden sollte.

„Ruhe jetzt! Wartet noch mit dem Beginnen, bis alle eine Angabe bekommen haben." Die Lehrerin schritt durch die Reihen, während Rico etwas eilig seine Stifte hervorkramte und sein dickes Wörterbuch aus der Tasche zog, das er wahrscheinlich doch nicht benutzte, aber das war egal. Was zählte, war, dass er hier war. Nicht pünktlich, aber noch rechtzeitig.

Frau Scheidt reichte ihm eine Angabe und ein zweites, liniertes Blatt Papier. Er starrte die Zeilen an, aber schaffte es nicht, die Sätze zu lesen. Er brauchte noch zwei Sekunden, um anzukommen.

Die anderen schrieben bereits, wenn auch nur ihren Namen, das Datum.

Blinzelnd sah er wieder auf sein Blatt. Englisch. Irgendeine Karikatur, mit irgendeinem politischem Thema.

Rico war die ersten Jahre mit Englisch aufgewachsen, er verstand die Sprache, konnte fluchen und chatten und sich unterhalten.

Aber analysieren und interpretieren war eine andere Sache, vor allem wenn es ein Thema war, das ihn nicht interessierte, das er nicht mochte und das ihm völlig egal war. Schöne, grammatikalisch wertvolle und mit breiten Wortschatz aufgeführte Argumente ... Nope.

Sein Blick wanderte durch das Klassenzimmer, zur Bank schräg vor ihm, wo sie saß. Lou.

Das blonde Haar fiel ihr unordentlich ins Gesicht, als sie sich über ihre Klausur beugte. Ihre zarten Finger umklammerten den Kugelschreiber, das silberne Armband klimperte ganz leise, als sie eine neue Zeile begann.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔On viuen les histories. Descobreix ara