22 Zu viel, zu spät

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„Noch einen", sagte Fill mit kräftiger Stimme und hob die Hand, um die Aufmerksamkeit des Barkeepers für sich zu gewinnen. Das war keine Schwierigkeit, denn der Kerl behielt ihn schon die ganze Zeit über im Auge. In der düsteren Kneipe war außer ein paar Stammkunden nicht viel los, es war noch zu früh und niemand scherte sich um Fill.

Whisky wurde in sein leeres Glas vor sich eingeschenkt und Fill griff danach. Der Alkohol brannte in seiner Kehle und nahm etwas von seinem Kummer mit sich, wenn auch nur oberflächlich.

Er hatte Viktoria wieder gesehen, ihr leibhaftig gegenüber gestanden. Ihr hasserfüllter Blick brachte ihm Brustschmerzen und er hielt sich an dem Glas vor sich fest, um nicht völlig abzudriften.

Wenn er diese verfluchten Gefühle nicht abschalten konnte, wie sollte er dann weitermachen? Er konnte nicht rückfällig werden, er hatte doch gerade endlich wieder sein Leben im Griff. Die Karriere lief, die Frauen liebten ihn und trotzdem ... er war ein Scheißvater.

Er trank das Glas Whisky aus und befahl sofort: „Noch einen!"

Es war das fünfte, das sechste, er hatte nicht mitgezählt, war es auch irgendwie egal. Seine Gedanken verschwammen und das war gut so. Er wollte nicht denken. Denken brachte ihm nur qualvolle Erinnerungen und ein Gewissen, das ihn keine Ruhe lassen wollte.

Der Barkeeper schenkte ihm wieder ein und sofort nahm Fill noch einen Schluck. Irgendwie wusste er, dass es scheiße war, aber es tat gut und so verkehrt war es schon nicht. Oder?

Eine Bewegung, jemand blieb neben ihm stehen. „Hey."

Fill hob seinen schwer gewordenen Kopf und starrte die junge Frau an, die ihn mit funkelnden Augen anlächelte. Die Blondine von letzter Nacht, wie war ihr Name? Irgendetwas Einsilbiges.

Mel!

Und sie hatte Felina gesehen!

Alarmiert richtete er sich jetzt auf, starrte sie panisch an.

Mel lachte nur wieder mit diesem Engelslachen. „Das ist ja ein Zufall, dich hier zu treffen. Ich wollte dich sowieso noch um einen Gefallen bitten, beziehungsweise meine kleine Schwester. Ob du am Freitag auf deinem Konzert nach Mitternacht für ihre beste Freundin ein Geburtstagsständchen anstimmen könntest."

Fill runzelte die Stirn und versuchte in seinem benebeltem Zustand ihren Worten zu folgen. „Hä was?"

„Naja, sie heißt Jasmina und ist so etwas wie dein größter Fan, du weißt schon." Mel verdrehte die Augen. „Und sie hat am Samstag Geburtstag. Dein Konzert geht doch sicher bis nach Mitternacht."

Fill nickte langsam. „Erinnere mich am Freitag nochmal."

„Wie? Wir haben nie Nummern getauscht." Mel sah ihn skeptisch an, dann wanderte ihr Blick auf das halbleere Glas.

„Wie lange bist du eigentlich schon hier?"

„Ein wenig", murmelte Fill und ignorierte die Frage nach seiner Handynummer. Die gab er nicht her. Er griff nach dem Glas, hob es aber nicht, sondern fuhr mit seinen Fingern über das glatte Material.

Mel grinste ihn nur fröhlich an. Was war sie so gut gelaunt? Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, hatte er sie rausgeworfen.

Sie schien wohl an dasselbe zu denken. „Du weißt, dass du mir eine Erklärung schuldest? Ein mysteriöses Mädchen vor deiner Suite und jetzt noch ein blaues Auge? Darf ich ehrlich sein? Du siehst gerade ziemlich scheiße aus, alles in Ordnung bei dir?"

Fill zuckte mit den Schultern und schüttelte dann den Kopf, während seine Finger um das Glas glitten und es zu seinem Mund führten.

„Ja, relativ egal", antwortete er schließlich widerwillig.

„Sicher?"

Genervt sah er zu ihr hinüber.

Sie war aufgebrezelt mit dunklem Lidschatten um ihre Augen, die in einem intensivem Blau funkelten. Fill wandte sich ab, um nach einer Lichtquelle zu suchen, die dieses Phänomen hervorrufen könnte, fand aber nichts Offensichtliches.

Ein Seufzen überkam ihn, als er an Viktorias Augen dachte. In einem bestimmten Licht leuchteten sie manchmal rötlich. Gefährlich und verdammt sexy.

Er wollte nicht an sie denken und deshalb konzentrierte er sich wieder auf die Frau neben ihm. Die plapperte munter weiter und erzählte von ihrem Tag und der Arbeit im Studio. Sie war zurzeit dabei, die letzten Songs für ihr erstes Album aufzunehmen und deshalb viel zu überdreht, um seine Desinteresse zu bemerken.

Irgendwann schlug sie vor, den Ort zu wechseln. „Wir könnten dort aufhören, wo wir letzte Nacht unterbrochen worden sind."

Verführerisch biss sie sich auf die Unterlippe, aber das zog nicht bei Fill und der schüttelte nur schwach den Kopf. „Ne, lass' mal."

„Doch. Ich glaube, du brauchst echt etwas Ablenkung." Sie lächelte wieder verlockend und kam näher, um sich schließlich zu seinem Ohr vorzubeugen und zu flüstern: „Mir fallen da mehrere Dinge ein, die dich auf andere Gedanken bringen könnten. Dinge, die sehr viel Spaß machen!"

„Ne." So betrunken war er noch nicht.

„Echt jetzt? Das hängt mit diesem Kind zusammen, oder?"

Er versuchte, darauf nicht zu reagieren, aber das erschien ihr wohl Antwort genug zu sein, zumindest sprach sie einfach weiter: „Wenn ich raten müsste, ist sie deine verschollene Tochter oder so? Deine Nichte?"

„Das geht dich einen Scheißdreck an."

„Aha. Also ja?"

Fill warf ihr einen vernichtenden Blick zu und der schien ziemlich erfolgreich zu sein, denn sie hob sofort abwehrend die Hände: „Okay, ich frage ja schon gar nicht weiter."

„Gut."

„Willst du noch etwas zu trinken?", wechselte sie das Thema. Unbewusst hatte Fill bereits sein Glas wieder geleert und gemeinsam bestellten sie sich noch etwas. Der Abend verging, die Bar wurde voller und Menschen begannen, ihn als Cielo Vaz zu erkennen.

Irgendwann brachen Mel und er doch gemeinsam auf. Es war nicht weit bis zu seinem Hotel und das einzig Unangenehme war, sich an den Fans vorbei ins Innere zu drängen. Inzwischen wussten alle, dass er hier nächtigte, das war nicht gerade toll, aber für den Moment egal.

Oben in der Suite holte Fill eine Flasche Whisky aus der Minibar und nahm ein paar große Schlücke. „Willst du auch?"

„Warum nicht, ja."

Sie trank, und er trank, und dann schliefen sie miteinander.

Es machte nicht so viel Spaß, wie Fill sich erhofft hatte, aber es befriedigte ihn soweit. Als sie dann endlich in seinem Bett eingeschlafen war, griff er nach der Flasche Whisky und wankte hinaus auf die Dachterrasse.

Kalte Nachtluft wehte ihm ins Gesicht, als er in den Horizont hinaus starrte. Er nahm einen Schluck und beobachtete die kleinen Lichtpunkte der Stadt, die immer wieder verschwammen und sich nicht stillhalten wollten. Seine Augen brannten vor Müdigkeit, eine Träne löste sich.

Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Leben war völlig zum Scheitern verurteilt. Er war für zu viel Scheiße verantwortlich und hatte keine Ahnung, wann er das letzte Mal richtig glücklich gewesen war.

Felina, schoss es ihm durch den Kopf, mit ihr war er nah dran gewesen.

Aber das war trotzdem immer noch komisch gewesen, ungewohnt, falsch. Er hatte es nicht verdient, mit dieser Tochter glücklich zu sein.

Seine Finger zitterten, als er noch einmal die Flasche hob und trank. Dann schnappte er nach Luft, schluckte und kämpfte mit sich selbst, bis er aufgab und in der Einsamkeit der Nacht in Weinen ausbrach.

Zu diesem Zeitpunkt bekam er eine SMS, aber er las sie zu spät.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now