53 Eine Handynummer

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Die Waffe lag gut in Ricos Händen. Er wusste, wie man sie entsicherte und wie sie funktionierte. Ein paar Vorteile gab es, wenn man in Amerika unter anderem von Bodyguards großgezogen worden war.

In seinem Hinterkopf wiederholten sich immer wieder diese Wörter, die er mehrfach auf dem Blog gelesen hatte. Tick. Tack. Der Countdown lief, ohne genaue Uhrzeit, ohne Zahlen, aber er lief und Felina schien mehr in Lebensgefahr als je zuvor. Tick. Tack. 

Der Türknauf drehte sich, es rüttelte und dann ging sie auf. Rico hob die Waffe.

Der Flieder erstarrte, blinzelte, als wäre alles nur ein Traum.

Rico zischte: „Rein da."

Ohne Widerrede stolperte der Flieder rückwärts über irgendwelche Schuhe. Er war barfuß, trug nur eine leichte Pyjamahose, ein ausgewaschenes T-Shirt. Seine Haare waren zerzaust vom Kissen, als hätte er jetzt am frühen Abend bereits geschlafen.

Rico folgte ihm in die Wohnung und hielt die Waffe gehoben. Seinen Mathelehrer so zu sehen, verlieh ihm ein neues Gefühl. Ein Hochgefühl von Macht.

Deshalb war Rico auch vollgepumpt mit Selbstbewusstsein, als er fordernd fragte: „Wo ist Felina?"

„W-Was?"

„Felina!", zischte Rico, schob mit dem Fuß hinter sich die Tür zu. Jetzt standen sie in seinem Flur, er drängte seinen Lehrer weiter zurück, hinüber, in sein Wohnzimmer, wo der Fernseher lief.

„I-Ich hab' nichts mit der Sache zu tun, Rico. D-Das musst du mir glauben!", stotterte der Flieder.

„Mach' ich aber nicht." Ricos Finger verkrampften sich um die Waffe, er war versucht, den Abzug zu berühren, zu testen, wie leicht es war.

„B-Bitte. Junge, leg' doch das Ding weg!"

„Nein! Erst wenn Sie mir sagen, wo Felina ist!"

„Das weiß ich nicht! Die haben nur mich als Schuldigen ausgesucht!", brüllte der Flieder zurück. "Meinen USB-Stick habe ich schon seit Monaten nicht mehr gefunden, da sind uralte Dateien draufgewesen."

„Das haben Sie vielleicht der Polizei erzählt, aber mich können Sie nicht verarschen! Irgendwie kam dieser Stick in die Hände eines Psychopathen, und dort ist auch Felina!"

„W-Was?" Der Flieder riss die Augen auf.

„Wie kam der USB-Stick dorthin?!"

„Ich kenne niemand -"

„Er ist Hacker und hat irgendein Problem mit den Medien und mit dem Internet, darüber bloggt er. Und Sie folgen ihm! Sie kennen ihn! Er ist 'n Psychopath!" Ricos Finger krallten sich vor Ärger um die Waffe. Sie war entsichert, aber er berührte nicht den Abzug. Er würde auch nicht abdrücken, vermutlich. Er wollte einfach nur hören, wo er diesen Psychopathen finden konnte.

„Hast du auch einen Namen?"

„Verdammt nein, natürlich nicht."

„Ich meine den Blog, wie heißt er?"

„Viscero-irgendwie. Gesichtsknochen auf Latein oder so." Hatte zumindest Lou behauptet, keine Ahnung.

„Oh. Dann glaube ich, weiß ich, wen du suchst, aber ich habe ihn nur zweimal getroffen. Wir kennen uns eigentlich nur online. Er hat mir beim Programmieren geholfen. Er heißt Gerhardt mit Vornamen, mehr weiß ich nicht."

Das war immerhin mal ein Anfang. Rico holte tief Luft. „Und wie finde ich diesen Gerhardt?"

„Ich habe seine Handynummer. Und eine E-Mailadresse."

„Her damit." Rico zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch, während er noch immer fest die Waffe in der Hand hielt. Sein Lehrer nickte rasch und lief hinüber zu dem Wohnzimmertisch, wo sein Telefon lag. Rico biss sich auf die Lippen und sagte dann streng: „Keine Scheiße, ja?"

„Nein. Hier." Der Flieder wischte ein paar Mal über den Display und reichte ihm dann das Handy. Einen Augenblick lang zögerte Rico, dann kramte er blitzschnell sein eigenes Telefon hervor und fotografierte den Kontakt ab.

„Okay. Noch was Erwähnenswertes?" Er hob wieder die Waffe und der Flieder schluckte. „Ist die echt?"

„Ja."

„Ach du heilige ... Damit baust du aber keine Scheiße, okay?"

Was sollte das denn jetzt? War es für diesen Hinweis nicht schon lange zu spät? Rico runzelte nur leicht die Stirn und machte sich davon. Nur weg von hier, während seine Gedanken kreisten. Er hatte die Telefonnummer! Das war gut, das war so was von gut!

Nur dann öffnete sich vor ihm die Haustür, als er nach dem Griff fassen wollte, und aus dem Regen heraus kamen zwei Männer herein. Einer trug eine Polizeiuniform und Rico stolperte erschrocken zurück, bevor der Polizist gegen ihn rannte.

Der Mann war mager, aber locker zwei Meter groß, und dahinter tauchte Kommissar Herbst auf. Der begann: "Gibt's Probleme? Oh, Rico. Du hier? Was wolltest du bei -" Er brach ab. Sein Blick lag auf Ricos Hand und auf die Schusswaffe darin, die für den Bruchteil einer Sekunde alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

Rico wurde übel, schwindelig. Seine Knie wollten umknicken. Taumelnd trat er weiter zurück und sah, wie der vordere Bulle blitzartig nach der Waffe greifen wollte.

Rico war schneller. Prompt drehte er um und rannte den Hausflur zurück. An der Treppe vorbei, hinüber, dort zum Keller hin gab es einen Hinterausgang, das wusste er noch. Regen peitschte ihm ins Gesicht, stärker als vorhin. Er bog nach rechts, in eine Gasse, einfach nur weg. Hinter ihm schrien die Polizisten etwas, aber Rico ignorierte sie.

Seine Füße schlitterten über den nassen Asphalt, wichen Pfützen aus. Nach nur wenigen Schritten japste er nach Luft. Seine Kleidung saugte sich mit Wasser voll und er wischte sich den Regen aus den Augen.

Hinter ihm näherten sich bereits Schritte. Größere, schnellere Schritte, die ihn jeden Moment eingeholt hatten.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now