10. Sakaki

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Toyoshi beendete sein Gespräch und schloss die Badezimmertür auf. Er hatte die Schultern zurückgenommen und sah mich von oben herab an, aber irgendwas an seiner Haltung wirkte falsch. Ich konnte nicht genau benennen, was es war, aber er sah aus wie ein trotziges Kind. Ein trotziges Kind, welches versuchte, mit aller Gewalt erwachsen zu erscheinen. Er machte eine Geste in den Raum.

Ich folgte der Aufforderung. Toyoshi brachte mich aus seinem Zimmer und aus dem Versteck unter der Spielhalle von Prismania auf die Straßen. Wir verließen gemeinsam die Stadt in Richtung Saffronia. Auf dem Feld hielt er mich an der Schulter zurück. Ich sah ihn an.

Er schien sich gefangen zu haben, sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick ruhte in meinem. »Du hast einen verdammten Fehler gemacht. Von da, wo wir hingehen werden, ist bislang noch niemand wieder zurückgekommen.«

»Weshalb erzählst du mir das?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht mehr die Möglichkeit, etwas zu ändern?«

Er grinste, sagte allerdings nichts mehr, sondern nahm mich am Handgelenk und ging auf das Zollhäuschen zu.

Ich versuchte, mich loszureißen, aber sein Griff war erstaunlich fest.

Ehe wir das Zollhäuschen betraten, beugte er sich zu meinem Ohr. »Du kannst brav mitkommen und wir werden nirgendwo Ärger haben. Oder ich muss dich auf Goliath mitnehmen.«

Ich schnaubte. Das wäre noch schöner, vor diesem Kerl auf einem Gallopa zu sitzen. Ich hörte auf zu zappeln, auch wenn ich für einen Moment darüber nachdachte, um Hilfe zu rufen. Allerdings war ich überzeugt, dass Team Rocket auch für solche Fälle irgendeine Ausrede parat hatte.

Wir folgten dem Weg bis zum Digda-Tunnel und von dort aus in den Vertania-Wald. Ich war vorher nicht oft in dieser Gegend gewesen und jetzt hatte ich nicht die Zeit, die Umgebung zu betrachten. Ich stolperte mehr über den Waldboden, als dass ich tatsächlich lief und zwischen all den Bäumen im Halbdunkel der Dämmerung verlor ich schließlich völlig die Orientierung. Endlich blieben wir vor einem mehrstöckigen Gebäude stehen, welches geradeso von den hohen Bäumen ringsherum verdeckt wurde. Toyoshi bugsierte mich über einen asphaltierten Vorplatz in das Gebäude und dort durch die Gänge bis zu einer schweren Holztür. Er klopfte.

Von der anderen Seite der Tür war ein Brummen zu hören, auf welches hin der Rocket die Tür öffnete. Er stieß mich ins Innere des dahinterliegenden Büros, ohne etwas zu sagen, und schloss die Tür.

Ich sah auf. Vor mir saß ein Mann in einem geschmacklosen orangefarbenen Anzug hinter einem teuren Schreibtisch. An seiner Seite erhob sich ein Snobilikat, leckte sich über die Lefzen und schlich auf mich zu.

Ich wich zur Tür zurück. Mein Blick fixierte den Mann hinter dem Schreibtisch. Ich hatte ihn vor einiger Zeit schon einmal gesehen, als ich auf einer meiner Touren durch Saffronia gekommen war. Damals hatte er attraktiver gewirkt.

Er erhob sich von seinem Stuhl und kam gemächlich hinter seinem Snobilikat her auf mich zu. Die Katze wich ihrem Herren aus, so dass der Mann genau vor mir stehen bleiben und auf mich herab sehen konnte. Er wiegte den Kopf, griff nach meinem Kinn, hob meinen Kopf und lächelte falsch. »Du bist hübscher als ich dachte.«

Ich zog meinen Kopf aus seinem Griff und zwang mich, seinen Blick zu erwidern. Meine linke Hand tastete nach dem Türknauf.

Er griff meinen Arm und hielt ihn fest. »Du willst schon gehen?«

Ich schluckte, wandte den Blick ab.

Er ließ mich los, entfernte sich zwei Schritte von mir und drehte sich dann wieder zu mir um. »Ich möchte mit dir über deinen Fehltritt reden. Mach es dir bequem, wir werden wohl einige Zeit miteinander verbringen müssen.«

»Ich habe kein Interesse, mit Ihnen zu reden.« Ich sah ihn an. »Ich weiß genau, was Sie vorhaben, also bringen Sie es hinter sich.«

»Weißt du das?« Sein Lächeln wurde breiter, während sein Blick kalt in meinem ruhte. »Du hast sicher keine hohe Meinung von mir. Anders kann ich es nicht erklären, dass du diese Kinder in mein Versteck geführt hast. Aber gut, vielleicht sollte ich dir dankbar sein, dass es diese Kinder waren und nicht die Polizei?«

»Was ist mit meinen Freunden passiert?«

»Schöne Freunde.« Er spuckte das Wort förmlich aus. »Die dich zurücklassen. Aber ich weiß nicht, was meine Leute mit ihnen getan haben. Vielleicht konnten sie fliehen, vielleicht nicht. Wen interessiert das?« Er zuckte affektiert mit den Schultern. »Wichtig ist, dass ich dich hier habe und ich will wissen, weshalb du diese Kinder zu mir gebracht hast. Dir ging es gut bei meinen Leuten, habe ich nicht recht?«

Ich schnaubte. Er hatte Recht, zumindest insofern, als dass es mir bei Team Rocket nicht schlecht gegangen war. Im Gegenteil, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatten sie mich besser behandelt als die Gang, aber um solche Dinge ging es nicht. Ich schluckte, rang mit meinen Lippen und schwieg. Ich wusste nicht, was ich diesem Mann entgegnen sollte. Alles, was mir einfiel, waren Kommentare zu diesem Anzug, den er offensichtlich in einem Anfall von Farbenblindheit ausgewählt hatte.

Das Snobilikat an seiner Seite fauchte leise und richtete seinen Schwanz auf.

»Wie ich sehe, willst du nicht reden. Vielleicht habe ich zu viel von einem Gossengör erwartet.« Der süßliche Tonfall in seiner Stimme war gewichen. »Ich hatte gehofft, dass wir die Sache friedlich klären können, du scheinst kein schlechter Mitarbeiter gewesen zu sein. Aber wenn du dich entschieden hast, werde ich das hinnehmen. Müssen.« Er schnippte mit den Fingern, wandte sich ab und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

Ehe ich auf irgendetwas reagieren konnte, hatte mich bereits sein Snobilikat von der Seite angesprungen und zu Boden geworfen. Ich schaffte es, mich zusammenzurollen und so weit es ging auf den Bauch zu drehen, ehe sich die große Katze in meiner Schulter verbiss. Ich presste die Zähne aufeinander und schnaufte in den Fußboden. Mein ganzer Körper war angespannt. Ich wollte das Snobilikat abschütteln, aber ich konnte meinen linken Arm nicht bewegen, solange es an meiner Schulter hing, also versuchte ich, mich auf die andere Seite zu rollen. Das Pokémon lag schwer auf meinem Rücken und zudem mit den Hinterbeinen auf dem Boden neben mir, so dass ich mich kaum bewegen konnte. Meine Schulter musste schmerzen, aber erstaunlicherweise fühlte ich nichts davon. Ich stemmte mich gegen den Körper Snobilikats und schob es langsam in Richtung des Schreibtisches.

Meine Gegenwehr musste das Pokémon irritieren, denn es ließ los und sprang zurück.

Ich griff mir an die blutende Schulter und versuchte, mich aufzurichten, doch Snobilikat sprang mich erneut an und riss mich zu Boden. Seine Fänge schnappten erneut meine Schulter, dicht neben meinem Hals.

Ich versuchte, mich wieder zusammenzurollen und dabei das Pokémon von mir abzuschütteln, aber ohne Erfolg. Ich schnaufte und krallte mich in Snobilikats Fell.

»Es ist genug.« Die Stimme des Bosses klang weit entfernt.

Ich schloss die Augen, wollte noch einmal alle Kräfte mobilisieren.

Snobilikat ließ meine Schulter los und zog sich zurück.

Jemand packte mich am Kragen und zerrte mich auf die Beine. Ein Gesicht, nah bei meinem, warmer Atem schlug mir gegen die Schläfe, die Lippen berührten beinahe mein Ohr. »Komm uns nie wieder in die Quere!«

Ich prallte gegen eine Wand und sank daran zusammen. Wie durch einen dichten Schleier hörte ich, dass eine Tür geöffnet wurde und jemand oder etwas das Büro betrat. Starke Arme packten mich, hievten mich hoch. Dann versank die Welt in Schwärze und absoluter Stille.

Verborgene LegendenWhere stories live. Discover now