Kapitel 1

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»Aua«, fluchte ich laut und riss schlagartig die Augen auf. Mein Herz klopfte schnell und ich war leicht desorientiert. Ich fasste an meinen Kopf und nahm einen Schmerz wahr, der mich zusammenzucken ließ. Verwirrt blickte ich mich um und so langsam wurde mir klar, dass ich mich in meinem Bett befand und mein iPhone klingelte. Mein Wecker. Benutzten Menschen eigentlich noch richtige Wecker? Oder war die Zeit vorbei? Ich wusste es nicht. Stöhnend drückte ich auf das Display und der Ton verstummte. Vorsichtig ließ ich mich zurück ins Bett sinken und schloss für einen Moment die Augen. Heute war der große Tag. Ich würde meine neue Klasse kennenlernen. Die letzte Nacht war schrecklich gewesen. Normalerweise konnte ich immer schnell einschlafen und gut durchschlafen. Außer ich war aufgeregt. So wie aktuell. Ich hatte mich durch die Nacht gequält, aber es half alles nichts. Ich musste aufstehen, mir Frühstück machen und duschen gehen. An meinem ersten Tag wollte ich auf keinen Fall zu spät kommen. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass der Sturm der letzten Tage vorbei war. Auf der Straße vor dem Haus lagen zwar noch einige kleine Äste, aber es war relativ windstill und eine majestätische Stille legte sich über die Straße. Ich sah keine Menschenseele.

Mein Kopf dröhnte noch immer, als ich mich erneut aufsetzte. Ich hatte mir den Kopf gestoßen, als mein iPhone geklingelt hatte. Das konnte auch nur mir passieren. Ich ließ meine Beine über die Bettkante gleiten, sodass sie fest auf dem Boden standen. Jede Bewegung tat weh, aber ich merkte auch, dass es von Minute zu Minute besser wurde. Ich hoffte, dass sich der Schmerz schnell wieder verabschieden würde. Seufzend stand ich auf und musste mich abstützen. Es wurde dunkel vor meinen Augen, aber nach zwei Sekunden ging es wieder. Ich Idiotin. Ok, weiter. Ich schlich durch das Zimmer und sah meine Katze Emma auf dem Stuhl meines Schreibtisches liegen. Der Stuhl, den jeder kannte. Auf den Klamotten geschmissen wurden, die zu dreckig für den Kleiderschrank waren, aber zu sauber für den Wäschekorb. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen, ein Zahn ragte aus ihrem Mund und sie schlief noch tief und fest. Der Wecker machte ihr nichts aus. Ich hatte das Bedürfnis, sie zu streicheln, aber wollte sie nicht unnötig wecken. Ich liebte diese Katze. Für mich war sie mehr als »nur« ein Tier. Sie war ein Teil meiner Familie. Ich sprach über meine Probleme mit ihr; nun ja, ich sprach und sie hörte zu. Ab und an miaute sie zustimmend. Sie brauchte auch viel Körpernähe, die ich ihr gern gab. Das Kuscheln tat uns beiden gut und manchmal hatte ich das Gefühl, es hätte eine heilende Wirkung. Wir hatten sie aus schlechten Verhältnissen geholt und es war die beste Entscheidung meines Lebens gewesen, dieses fabelhafte Tier aufzunehmen. Seit fast fünf Jahren war sie nun schon an meiner Seite.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging ich in das Badezimmer und warf einen Blick in den Spiegel. Nur ein Wort fiel mir dazu ein: GRAUENHAFT. Man sah, dass mir der Schlaf fehlte und ich hoffte, dass ich mit einer heißen Dusche am Ende wieder frischer aussah. Ich überprüfte die Stelle an meinem Kopf, doch es war zum Glück nichts zu sehen. Dann zog ich meine Schlafsachen aus und schlüpfte in die Dusche. Mir war kalt und ich zitterte leicht. Doch das warme Wasser wärmte mich schnell auf. Ich schloss die Augen und war in diesem Moment einfach nur bei mir. Schaltete die Gedanken aus und seifte mich ordentlich ein. Meine Haare verwöhnte ich mit einer Kur und als ich einige Zeit später vor dem Spiegel stand und mir die nassen Haare föhnte, verursachte mir die Wärme eine Gänsehaut, was nicht mehr an dem Schmerz lag, denn der war fast abgeklungen. Als ich vollkommen trocken war, betrachtete ich mich erneut. Ich gefiel mir schon wieder viel besser und lächelte mich aufmunternd an. Das wird schon, Lisa. Das wird schon. Ich hatte schon ganz andere Dinge gemeistert und immerhin war ich auch nicht alleine, auch wenn ich mich gerade so fühlte.

Als ich die Küche betrat, war nur noch meine Mama da. Mein Papa war bereits zur Arbeit gefahren. »Guten Morgen, Lisa. Wie hast du geschlafen?« Ich nuschelte zurück: »Guten Morgen.« Und winkte ab. »Frag nicht.« Mitleidig blickte sie mich an. »Du schaffst das schon. Ich soll dir von Papa auch noch einen schönen ersten Schultag wünschen.« Sie hatte recht. Was sollte mir schon passieren? Ich war doch sonst auch nicht so schüchtern und mich würde dort niemand verprügeln. Hoffte ich jedenfalls. »Ich habe dir schon die Brotdose für die Schule vorbereitet«, teilte sie mir mit und zwinkerte mir zu. »Danke«, sagte ich und freute mich ehrlich darüber. Das hatte sie schon seit einigen Jahren nicht mehr getan und ich fand, dass es eine tolle Geste von ihr war. Dann machte ich mir Cornflakes und setzte mich zu ihr an den Tisch. Sie hatte schon gefrühstückt und trank noch ihren Kaffee aus. »Ich muss gleich los. Ich habe einen Termin in der Nähe der Schule. Wenn du magst, dann nehme ich dich mit.« Ich sah auf die Uhr. Es war noch recht früh. »Nein, ich fahre mit dem Bus, aber danke.« Ich wollte nicht so lange allein vor der Schule stehen und warten. Ein neues Gesicht sorgte immer für Aufregung und die brauchte ich am ersten Morgen ganz bestimmt nicht.

Mitten ins Herz || txsWhere stories live. Discover now