Kapitel 15

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Mein Mund blieb geschlossen. Ich genoss einfach nur den Moment mit ihr. Für mich gab es in diesem Augenblick nur Frau Vogel und mich. Ihre Hand umschloss noch immer meine Hand und ich wünschte mir, dass sie sie nicht wieder losließ. Ich lächelte sie sanft an und sie erwiderte es. Doch dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ein leicht erschrockener Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Sie räusperte sich und lehnte sich zurück. Dabei ließ sie meine Hand los. Ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen, aber es fiel mir nicht leicht. Ich hätte noch ewig hier sitzen bleiben und ihre Hand halten können. Angst schlich sich in jede einzelne Zelle meines Körpers. Hatte sie etwas von meinen Gefühlen gemerkt? War sie deshalb nun so zurückhaltend und distanzierte sich von mir? Ich musste schlucken und ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Der Zauber der vergangenen Minuten war vergangen.

»Du schaust plötzlich so traurig«, stellte Frau Vogel fest und riss mich aus meinen Gedanken. »Hmm...«, murmelte ich nur und starrte an ihr vorbei an die Wand. Ich fixierte das Poster, welches dort hing. »Ich bin nicht traurig. Ich bin... Ich weiß auch nicht, was ich bin. Verwirrt?« Sie runzelte die Stirn und fuhr sich anschließend durch ihre Haare. »Warum verwirrt?«, wollte sie wissen und ihre Stimme hatte einen ganz merkwürdigen Klang. Sie sah mich an und ich bemerkte, dass sich ihre Hand um ihre Kette schloss, an der sie wieder herumspielte. »Sind Sie nervös?«, stellte ich als Gegenfrage und ich merkte, wie sehr meine Frage sie überrumpelte. Woher nahm ich diesen Mut? »Wie bitte?«, stieß sie hervor und riss ihre Augen auf. Ich lag richtig. Ich merkte es an ihrer Reaktion. Doch mein Mut verwandelte sich in Unsicherheit. Wie konnte ich sie das nur fragen?

»Tut mir leid«, flüsterte ich. »Mir ist nur aufgefallen, dass Sie immer an Ihrer Kette herumspielen und ich habe mich gefragt, ob Sie nervös sind oder es eine Angewohnheit ist.« Sie musste mich für komplett bescheuert halten. Sie überlegte, dann sagte sie: »Beides.« Ein unsicheres Lächeln legte sich auf ihre Lippen und ich beließ es dabei. Ich wollte nicht allzu neugierig sein. Sie hatte sicherlich ihre Gründe, aber eine Frage interessierte mich noch brennend. »Dich beschäftigt doch noch etwas, oder? Willst du mich noch etwas fragen?« Sie machte mich schwach. Anscheinend war ich wirklich wie ein offenes Buch zu lesen. »Ja, aber ich weiß nicht, ob ich die Frage stellen sollte«, gab ich zögerlich zu und sofort schoss mir die Röte ins Gesicht. Ich wusste nicht, ob ich mit dieser Frage eine Grenze überschritt. Ob sie es mir überhaupt sagen wollte, denn immerhin war sie meine Lehrerin und ich ihre Schülerin. Fragend, aber auch interessiert, blickte sie mich an. »Du kannst deine Frage stellen und ich werde dann entscheiden, ob ich dir die Antwort sage, ok? Deal?«

Für einige Sekunden schloss ich die Augen, dann hauchte ich: »Ok.« Abwartend schaute sie mich an und ich setzte mich auf. »Ich bin mir ehrlich gesagt auch nicht sicher, was real ist und was nicht. Es geht um die Nacht, in der Sie mich nach Hause gefahren haben«, fing ich an und sie wurde ganz blass. Ich biss mir auf die Lippe. Sollte ich sie wirklich danach fragen? Ich wollte auch nichts wieder aufwühlen, denn ich wusste ja nicht, worum es ging. Nach einer kurzen Pause sprach ich dann doch weiter: »In meiner Erinnerung... Also... Ich...«, stammelte ich und wurde immer nervöser. Warum hatte ich dieses Thema nur angeschnitten? »Keine Sorge, ich beiß nicht«, meinte sie beruhigend und ich atmete tief durch. »Ihre Augen waren rot. So als hätten Sie geweint und ich frage mich, was der Grund dafür war.« Nun war es raus. Frau Vogel presste ihre Lippen aufeinander und ich rechnete fest damit, dass sie mir darauf keine Antwort geben würde. »Schon gut«, sagte ich deshalb schnell. »Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Ich habe es mich nur gefragt.«

Doch sie reagierte anders als gedacht. »Nein, schon gut. Es ist nur...«, sagte sie, aber hielt für einen Moment inne. Sie überlegte und ich gab ihr die Zeit. »Mein Mann und ich haben momentan einige Probleme, was zum größten Teil wohl auch an mir liegt. Wir sind schon eine ganze Weile zusammen und es ist nicht immer so einfach, dieses System der Familie und Ehe aufrechtzuerhalten. Verstehe mich nicht falsch, ich liebe meine Familie. Aber manchmal steigt einem alles über den Kopf. Ich war an dem Abend bei meiner besten Freundin, um ein wenig mit ihr zu reden und da sind eben einige Tränen geflossen.« Sie hatte nicht explizit gesagt, dass sie ihren Mann liebte, sondern ihre Familie. Für mich machte es einen großen Unterschied. Es lag zum größten Teil an ihr, dass sie Probleme hatten? Am liebsten hätte ich nachgefragt, aber das ging nicht. Das war nun wirklich zu privat. Und sie würde es mir auch ganz bestimmt nicht erzählen. Ich war schon froh, dass sie dazu überhaupt etwas sagte. Sie beobachtete meine Reaktion, aber ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

Mitten ins Herz || txsWhere stories live. Discover now