Kapitel 3

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Am nächsten Morgen kam ich erstaunlicherweise gut hoch. Auch wenn mein warmes Bett sehr verlockend war, freute ich mich auf den Tag. Ich schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Emma miaute mich an, sie blieb aber im Bett liegen und gähnte herzhaft. Katze müsste man manchmal sein, dachte ich. Ich würde gern einmal die Rolle tauschen. Nur für einen Tag. Wie schön das wäre. Den ganzen Tag essen, schlafen und gekrault werden. Ich gab ihr einen sanften Kuss auf den Kopf und sie quittierte ihn mit einem erneuten Miauen. Ein Lächeln schlich sich über meine Lippen. »Schlaf schön weiter, mein kleiner Schatz«, flüsterte ich ihr zu und das tat sie. Ich verweilte einen Moment und nahm ihr gleichmäßiges Atmen wahr. Ich sah sie so gern an. Ihr Anblick beruhigte mich und gab mir ein Gefühl von... Sicherheit? Sie war immer da, ganz egal, wie schlecht es mir auch ging. Ich liebte sie wirklich sehr.

Ich schlich ins Bad und stieg in die Dusche. Die Heizung musste ich unbedingt aufdrehen, stellte ich fest und zitterte leicht. Es hatte sich in den letzten Tagen ziemlich abgekühlt und gerade am frühen Morgen machte mir das echt zu schaffen. Ich schüttelte mich und stellte schnell das Wasser an. Erst war der Strahl eiskalt, doch nach wenigen Sekunden wurde er immer wärmer. Ich genoss die Zeit, die ich für mich hatte. Wie das Wasser auf den Körper prasselte und meine Zellen aktivierte. Nach dem Duschen fühlte man sich manchmal echt wie ein neuer Mensch. Eine ganze Weile blieb ich unter dem dampfenden Wasser stehen und hielt die Augen geschlossen. Ich war eigentlich ein recht zufriedener Mensch, doch dachte manchmal zu viel nach. Häufig bekam ich davon auch Kopfschmerzen. Oft waren es sogar nur Kleinigkeiten, für die sich schnell eine Lösung finden ließ, doch trotzdem konnte ich es nicht abstellen. Die Gedanken überkamen mich einfach.

Nach der heißen Dusche fühlte ich mich schon wieder viel lebendiger. Ich zog mich an und ging dann nach unten in die Küche. Heute früh waren meine Eltern beide noch da. Sie begrüßten mich fröhlich und fragten nach dem vergangenen Abend. »Es war wirklich schön«, meinte ich lächelnd. »Wir hatten tolle Gespräche und die Cocktails waren auch gut.« Gut gelaunt schenkte ich mir Pfefferminztee ein. Ohne Zucker. So mochte ich ihn am liebsten. Ich konnte die Menschen nicht verstehen, die fünf Teelöffel Zucker dazugaben. Das war doch viel zu süß, oder? Er war noch heiß, also nippte ich nur am Rand der Tasse und hing meinen Gedanken nach. Wir frühstückten in Ruhe zusammen und dann mussten meine Eltern los. Ich hatte noch etwas Zeit und schnappte mir das Buch »54 Minuten«. Es ging um einen Amoklauf in Alabama, der aus der Sicht von vier Jugendlichen erzählt wurde und ich war so froh, dass so etwas nicht allzu oft in Deutschland passierte. Ich fand, dass es trotzdem ein wichtiges Thema war. Vor allem interessierten mich die Hintergründe des Amokläufers. Warum taten Menschen bestimmte Dinge? Wie konnte man einen anderen Menschen erschießen? Wie konnte diese unterdrückte Wut nicht früher erkannt werden? Die Warnsignale? Niemand wollte sie sehen und am Ende sagten alle immer: »Hätte sie/er doch nur etwas gesagt, wir hätten doch eine Lösung gefunden.« Nur dann war es zu spät.

Als ich gerade 19 Seiten gelesen hatte, warf ich einen Blick auf die Uhr. Mist, jetzt hatte ich zu lange gelesen und war spät dran. Aber ich konnte jetzt nicht sofort los. Ich musste noch das Kapitel zu Ende lesen. Das war ein absolutes Muss, sonst würde ich den ganzen Tag daran denken müssen. Schon immer hatte ich es so gemacht und es jetzt anders zu machen, kam für mich nicht in Frage. Das Buch las sich aber schnell, sodass ich kurze Zeit später im Bus saß und die ganze Fahrt über diese Geschichte nachdenken musste. Ich hinterfragte die Dinge und selbst über die Geschichte zerbrach ich mir den Kopf. Dachten andere Menschen auch so viel nach wie ich? Manchmal hatte ich das Gefühl, dass einige Personen gar nicht nachdenken würden. Der Bus stand und ich sah auf die Anzeigetafel. Ich war schon an der Schule angekommen. Durch meinen Gedankenstrudel hatte ich mein Umfeld komplett ausgeblendet. Ich sprang noch auf, doch dann fuhr der Bus schon wieder los. Genervt ging ich zur Tür und stieg an der nächsten Haltestelle aus. Das war so klar, dass mir das wieder passierte. Dafür hatte ich ein Händchen.

Mitten ins Herz || txsWhere stories live. Discover now