Kapitel 18

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Ich fühlte mich schwach. Die Kraft war aus meinem Körper gewichen und ich fragte mich, wie ich diesen Fehler machen konnte. Warum hatte ich Sophia in meiner blinden Wut davon erzählt? Wieso hatte ich mich nicht besser unter Kontrolle? So emotional kannte ich mich gar nicht. Was hatte Frau Vogel nur mit mir angestellt? Ich setzte mich auf eine Bank, die ganz in der Nähe stand. Sie war zwar fast direkt an der Straße, aber das war mir egal. Sollten die Leute doch blöd gucken. Auch bei ihnen lief nicht immer alles perfekt. Leise wimmerte ich. Ich bereute auch mein Auftreten bei Frau Vogel. Woher hatte ich diesen naiven Mut genommen? Ich musste sie völlig überrumpelt haben, aber so ganz konnte ich ihr nicht glauben, dass sie sich nicht auch angezogen fühlte von mir. Jedenfalls an diesem Abend. Vielleicht lag es am Alkohol, den sie getrunken hatte. Aber nein, das war doch Schwachsinn. Oder? Ich raufte mir die Haare. Ich saß in der Klemme und der »Schuh«, der bisher nur vorn gedrückt hatte, drückte nun auch von hinten.

Es wäre vernünftig, wenn ich Frau Vogel in Ruhe lassen würde, doch es fiel mir unglaublich schwer, weil da immer noch ein kleiner Funken Hoffnung war. Auch wenn es falsch und verwerflich war. Auch wenn mir bewusst war, dass sie eine Familie hatte. War ich wirklich so ein schlechter Mensch? Der seine Bedürfnisse in den Vordergrund stellte und keine Rücksicht auf feste Freundschaften und eine Ehe nahm? Doch ganz abgewiesen hatte sich mich nicht. Jedenfalls nicht am Anfang. »Ist hier noch frei?«, fragte plötzlich jemand und riss mich aus meinen Gedanken. »Ja«, sagte ich knapp und sah dann erst auf. Verblüfft stellte ich fest, dass das die Omi aus dem Bus war. Was für ein Zufall. Aber anscheinend hatte sie mich nicht erkannt. Sie beachtete mich gar nicht, aber ich musterte sie von der Seite. Sie starrte auf die Autos, die vorbeifuhren und lächelte leicht. Sie wirkte ganz zufrieden. Im Reinen mit sich selbst. Was würde ich dafür geben, das auch von mir behaupten zu können.

»Denkst du, ich bemerke deinen Blick nicht?«, fragte sie, lachte leise auf und drehte sich in meine Richtung. Da war es wieder. Das Gefühl der Vertrautheit, was ich nicht einordnen konnte. Sofort fühlte ich mich ertappt und wandte den Blick ab. »Du siehst nicht besonders glücklich aus«, stellte sie fest und ich schüttelte lautlos den Kopf. »Ist es wegen deiner Lehrerin?«, fragte sie und sah mich mit wachsamen und aufmerksamen Augen an. »Sie... Sie können sich an mich erinnern?«, stammelte ich irritiert und wieder lachte sie auf. Sie wirkte so gutmütig. »Natürlich kann ich das. Nur weil ich alt bin, kann ich mich trotzdem noch an Menschen erinnern, die ich getroffen habe.« Es war mir unangenehm. Natürlich wollte ich sie nicht auf ihr Alter reduzieren. Das war nicht meine Absicht gewesen. Es wunderte mich trotzdem sehr. »So meinte ich das auch nicht«, nuschelte ich also kleinlaut und sie winkte ab. »Also?« Sie wartete auf eine Antwort und wieder hatte ich das Gefühl, mich ihr öffnen zu müssen. »Ja. Es ist alles furchtbar kompliziert.« Sie wartete einen Moment, dann erklärte sie: »Weißt du, die Dinge sind nicht kompliziert. Man macht sie sich nur immer kompliziert.« Bei ihr hörte sich das so einfach an, aber das war es nicht. Ganz im Gegenteil.

»Hm«, murmelte ich nur und sie legte ihre Hand auf mein Knie. »Ich weiß, dass Gefühle kleine Biester sein können. Vor allem, wenn die Liebe unerwidert bleibt.« Ich nickte traurig. »Ja, das stimmt. Aber das ist nicht das einzige Problem. Meine beste Freundin ist ebenfalls in diese Frau verliebt.« Erstaunt blickte sie mir in die Augen. »Oh«, kam es über ihre Lippen. »Das macht die Sache vielleicht doch etwas komplizierter.« Irgendwie brachte ihre Aussage mich zum Schmunzeln. »Und sie weiß es. Mir ist es vorhin herausgerutscht«, fügte ich hinzu und spürte, wie das feuchte Holz der Bank durch meine Hose drang und mein Hintern ganz kalt war. Aber ich konnte nicht aufstehen. »Und was willst du jetzt machen?« Ich seufzte. »Wenn ich das wüsste.« Sie setzte sich etwas gerader hin. »Du solltest darüber mit ihr reden. Tiefe Freundschaften sind wichtig für das ganze Leben. Daran sollte auch eine unglückliche Liebe nichts ändern, die nicht erwidert wird.« Aber war sie wirklich so unerwidert? »Ich weiß nicht, ob sie ganz unerwidert ist«, gab ich zu und fragte mich wieder einmal, warum ich dieser fremden Frau davon erzählte.

Mitten ins Herz || txsWhere stories live. Discover now