Kapitel 8

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»Dann lasst uns mal mit dem Unterricht anfangen«, meinte Frau Vogel schließlich und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf uns. Ein Stöhnen ging durch die Klasse. Für mich war es kein Problem. Ich hörte ihr gern zu, wenn sie etwas erklärte. Sie lachte auf und ich musste schlucken. Diese Frau war das beste Synonym für »wunderschön«. Eigentlich sollte ihr Name dafür im Duden als Erklärung stehen. So viel war sicher. Sophia saß neben mir und blickte leicht angestrengt nach vorn. Ich hatte das Gefühl, dass sie immer sofort angespannt wurde, wenn Frau Vogel in der Nähe war. Ob sie die gleichen Gedanken hatte wie ich? Oder hatte ich eher die gleichen Gedanken wie sie? Was ging in ihrem Kopf ab, wenn sie unsere Lehrerin sah? Mir reichte schon, was mein Gehirn produzierte, wie war es denn erst bei meiner besten Freundin? Die verliebt in diese Frau war. Ich merkte, wie mir das gegen den Strich ging und darüber ärgerte ich mich sehr. Es war doch ihre Sache. Nicht meine. In diesem Moment drehte Sophia sich zu mir um und flüsterte: »Die Ohrstecker sind neu oder sie hat sie noch nie getragen. Jedenfalls habe ich sie noch nie gesehen.«

Was sollte ich mit dieser Information? Das war mir doch total egal. Ok, eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich war, betrachtete ich ihre Ohren und erhaschte einen Blick auf die Ohrstecker, da sie sich die Haare hinter das rechte Ohr geklemmt hatte. Sie sahen toll aus, aber das wunderte mich nicht. Diese Frau hatte Geschmack und dann schoss mir der Gedanke in den Kopf, dass sie die Stecker womöglich von ihrem Mann bekommen hatte. Mochte sie es, wenn ihr der Mann Schmuck schenkte? Und apropos Mann; wie er wohl aussah? Hatte sie auch bei den Männern einen guten Geschmack? Sie musste einfach. Um die Gedanken an ihren Mann zu verscheuchen, beobachtete ich Finn für einen Moment und Frau Vogel teilte uns Arbeitsblätter aus. Er hatte nun einen anderen Stift in die Hand genommen und man hörte, wie er damit malte und die Miene kratzte etwas auf dem Blatt. Sie warf ihm erneut einen Blick zu und ich konnte mir vorstellen, dass sie eine tolle Mama war, obwohl ich das eigentlich nicht beurteilen konnte. Aber es war so ein Gefühl. Vielleicht wollte ich es auch nur so sehen, weil sie in meinen Augen so toll war.

Dann lenkte ich meine Konzentration auf das Arbeitsblatt und fing mit dem Ausfüllen an. Ich hätte ewig Matheaufgaben bearbeiten können, weil ich sie mit Frau Vogel assoziierte. Mir wurde ganz anders, wenn ich an das Wochenende dachte. Normalerweise liebte ich die beiden freien Tage in der Woche, aber ich wusste auch, dass es dieses Mal anders war. Dass ich meine Gedanken nicht im Griff hatte und es mir fehlen würde, meine Lehrerin zu sehen. Was war nur los mit mir? Ich musste für Ablenkung sorgen. Sonst würde ich die Zeit nicht überstehen. Ich war gern alleine, aber ich merkte, dass ich es jetzt nicht sein wollte. Ich stieß Sophia leicht an. Fragend blickte sie auf und ich flüsterte ihr fragend zu: »Wollen wir morgen Abend ausgehen? Vielleicht haben Caro und so auch Lust.« Euphorisch nickte sie. »Ja, auf jeden Fall. Wir könnten mal wieder kickern gehen.« Das war eine gute Idee und ich war dankbar für ihren Vorschlag. Ich hoffte, dass mir das Wochenende etwas Klarheit geben würde über meinen momentanen Zustand. Vielleicht würde am Montag die Welt schon wieder ganz anders aussehen. Wer wusste das schon.

Meine schwache Blase machte mir mal wieder einen Strich durch die Rechnung, also wollte ich auf die Toilette gehen. Wir konnten jederzeit gehen, mussten uns nur kurz abmelden. Deshalb meldete ich mich, was mich etwas Überwindung kostete. In diesem Moment dachte ich an den Pullover. Sie hatte nichts weiter dazu gesagt, für sie war die Sache erledigt und ich spürte, wie die Hitze in mir aufstieg, weil ich mit ihrem Kleidungsstück gekuschelt hatte. Die ganze letzte Nacht. Dass sie mich nun ansah, machte mir erst einmal bewusst, was ich da eigentlich tat. »Ich geh mal auf die Toilette«, nuschelte ich. Sie nickte kurz und ich ärgerte mich über mich selbst. Ich wollte den Raum nicht verlassen. Ich wollte bei ihr bleiben. Plötzlich sagte Finn: »Mama? Ich muss auch mal.« Sie sah ihren Sohn stirnrunzelnd an und dann drehte sie sich in meine Richtung. »Macht es dir etwas aus, ihn mitzunehmen?« Ich schüttelte wortlos den Kopf. Erleichtert atmete sie aus und ihre Miene hellte sich auf. »Gut, vielen lieben Dank.«

Mitten ins Herz || txsWhere stories live. Discover now