Kapitel 44

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Ich konnte mich jetzt nicht einfach so leicht von ihr abspeisen lassen. Also fasste ich den Mut und lief ihr eilig hinterher. Im Flur erwischte ich sie. »Frau Vogel«, rief ich etwas lauter und es war mir in diesem Moment völlig egal, ob irgendjemand das mitbekam. Es war immer wieder komisch, sie hier in der Schule mit ihrem Nachnamen anzusprechen, obwohl wir uns bereits sehr nah gekommen waren. Sie stoppte sofort, aber drehte sich nicht um. Dann endlich hatte ich sie eingeholt und wisperte ihr zu: »Was soll das? Keine Zeit? Ernsthaft? Nach dem Wochenende?« Ihr Blick huschte umher, doch niemand schien Notiz von uns zu nehmen. »Psst. Ich weiß nicht, was du jetzt von mir erwartest«, erwiderte sie und ihre Stimme klang verändert. War das jetzt ihr Ernst? »Was? Was ich von dir erwarte?«, stieß ich fragend hervor und fühlte mich wie ein kleines Kind in diesem Augenblick. Wut und Enttäuschung stauten sich in mir an. »Du wolltest mit Eric reden und ich will jetzt einfach nur wissen, was passiert ist. Ob ihr geredet habt. Warum meine Nachricht nicht zugestellt wird?« Ich wurde etwas lauter und Vanessa zuckte zusammen. Sie schloss die Augen und flüsterte: »Sprich bitte nicht so laut.« War das wirklich ihre einzige Sorge?

Ich verstand die Welt nicht mehr. »Du bist komisch. Ist irgendetwas passiert, was ich wissen sollte? Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst.« Zischend meinte sie: »Ach, kann ich das?« Dann lief sie los und ließ mich völlig perplex zurück. Was hatte ich ihr getan? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Als wir uns am Freitag verabschiedet hatten, war alles gut gewesen. Und seitdem herrschte Funkstille zwischen uns. Ich konnte doch gar nichts falsch gemacht haben, oder? Oder hatte sie irgendetwas von mir erwartet, was mir nicht klar gewesen war? Aber selbst, wenn es so gewesen wäre. Das war noch lange kein Grund, um so mit mir umzugehen und so abzublocken. Ich sah ihr nach, wie sie flüchtete und fühlte mich verloren. Als würde es ohne Vanessa keinen Sinn machen, hier zu sein. Ich wusste, dass die Schule wichtig war. Dass ich das nicht von ihr abhängig machen durfte. Doch trotzdem fühlte ich mich hier gerade fehl am Platz. Das Klingeln riss mich aus meinen Gedanken und ich ging in den Raum. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

»Alles ok?«, fragte Sophia mich und runzelte die Stirn. »Nein, aber ich möchte nicht darüber reden.« Vielleicht war ich etwas zu hart gewesen, deshalb schob ich nach: »Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren. Ich kann gerade nicht darüber reden. Muss mich erst einmal selbst sortieren.« Sie nickte und meinte: »Ich bin für dich da.« Dann begann der Unterricht, doch konzentrieren konnte ich mich natürlich nicht. Ständig fragte ich mich, was passiert war. Hatte Eric sie vielleicht wieder geschlagen, als sie das Thema ansprechen wollte? Ich hatte nichts gesehen an ihrem Körper, aber was hieß das schon? Es war Winter und sie trug lange Klamotten. Vielleicht unter der Hose? Unter dem Pullover? Wir mussten uns unbedingt aussprechen. Ich wartete den Block ab und fasste einen Entschluss. Ich wusste, wo sie Unterricht hatte und sprintete direkt nach dem Ende der Stunde los, um sie noch einmal zur Rede zu stellen. Es strömten alle Schülerinnen und Schüler aus dem Raum, als ich ihn erreichte. Vanessa hatte sich auf ihren Stuhl sinken lassen und packte ihre Sachen zusammen. Sie sah total fertig aus. Als der letzte Schüler den Raum verlassen hatte, betrat ich ihn und sie hob den Kopf.

Als unsere Blicke sich trafen, wurde ich traurig. Ich konnte es mir nicht erklären, aber hier war etwas ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorstellte. Sie sprang auf und ich schloss schnell die Tür. »Wir müssen reden«, sagte ich bestimmt. »Jetzt.« Erschöpft ließ sie sich wieder nieder und sah mich an. Nein, eigentlich blickte sie durch mich hindurch, hatte ich das Gefühl. »Was soll dieses Theater?«, wollte ich wissen und ihr Blick wurde immer starrer. Ich wartete, doch es kam keine Antwort. Mir schossen Tränen in die Augen. »Bitte sprich mit mir. Was habe ich falsch gemacht?« Nun wurde ihr Blick etwas klarer. »Du hast gar nichts falsch gemacht.« Aha. Sie konnte also doch sprechen. »Was ist es dann? Hat Eric dir etwas getan? Ist es das?« Ich lief auf sie zu und wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie zog sie weg. »Nein. Nicht.« Erstarrt blieb ich stehen. »Willst du Schluss machen?«, flüsterte ich und die Worte waren kaum zu verstehen, doch sie musste sie verstanden haben, denn sie antwortete: »Wie kann man Schluss machen, wenn man nicht einmal zusammen ist?« Mir fehlten die Worte. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Ich war zu keiner Bewegung fähig. Ihr Satz hatte gesessen. Traf mich wieder mitten ins Herz. Ich konnte beobachten, wie sie ihr Buch einpackte und aufstand. Sie ging zur Tür. Noch immer konnte ich mich nicht regen. Tränen liefen mir über die Wangen, aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Wie konnte ihr das plötzlich nur alles egal sein?

Mitten ins Herz || txsWhere stories live. Discover now