Kapitel 21

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Ich blieb noch eine ganze Weile auf dem leeren Flur stehen. Niemand war zu sehen und ich fühlte mich unendlich einsam. Sie war gegangen und hatte gesagt, dass es ein Fehler gewesen war. Aber konnte es ein Fehler sein, wenn es sich so gut und richtig anfühlte? Ich konnte verstehen, dass für sie definitiv mehr auf dem Spiel stand. Es war nicht nur, dass sie meine Lehrerin war. Sie hatte auch eine Familie, die ihr ganz sicher viel bedeutete. Vor allem ihr Sohn. Ich war Single. Aber auf der anderen Seite hatte sie mich in den Raum gezogen und sie hatte mich gegen die Tür gedrückt. Nicht andersrum. So etwas tat man doch nicht ohne Grund? Was wäre passiert, wenn die Reinigungskraft nicht gekommen wäre? Hätte sie mich dann vielleicht wirklich geküsst? Konnte das sein? Sie musste diese Anziehung zwischen uns doch auch spüren, oder? Ich konnte mir das nicht einbilden. Unmöglich. Mein Herz klopfte noch immer wild in meiner Brust. Vor allem, wenn ich mir vorstellte, dass sie mich wirklich küssen wollte. In meinem Kopf wiederholte sich immer wieder ihr Satz: »Du kannst mir nicht einfach sagen, dass du verknallt in mich bist, Lisa Decker.«

Langsam lief ich in Richtung Ausgang und meine Schritte hallten durch die leeren Gänge. Eine fast leere Schule war schon etwas unheimlich irgendwie. Sonst herrschte hier immer Trubel und manchmal konnte man sein eigenes Wort in den Pausen nicht verstehen, aber gerade herrschte absolute Stille. Ich musste unbedingt mit ihr reden. Klartext. Es war ein zweiter Fast-Kuss ihrerseits, das konnte kein Zufall sein. Ich musste sie damit direkt konfrontieren und war auf ihre Reaktion gespannt. Sie würde alles abstreiten, aber dieses Mal würde ich nicht ohne einen Kuss gehen. Ich wusste nicht, woher ich diesen Mut nahm, der mich in Bezug auf sie durchflutete. Aber ich würde nicht kampflos aufgeben. Es fühlte sich so richtig an. Auch wenn ich damit eine Ehe gefährdete. Aber war sie es nicht sowieso schon, wenn sie so weit ging und mich fast geküsst hätte? Oder war ich viel zu egoistisch?

Als ich die Tür aufstieß, blies mir kalter Wind ins Gesicht. Ich zog die Jacke höher, aber es half nicht. Da ich den Bus, den ich normalerweise nahm, verpasst hatte, musste ich noch warten. Ich stand an der Bushaltestelle und steckte meine Finger in meine Jackentaschen. Es war Mitte November und nächsten Monat war schon wieder Weihnachten. Die Zeit der Familie. Ich musste schlucken. Wie Frau Vogel wohl Weihnachten feierte? Was es wohl zu essen gab? Ob sie auch jedes Jahr »Kevin – Allein zu Haus« und »Kevin – Allein in New York« schaute? Auch wenn ich die Filme schon so oft gesehen hatte, gehörte es bei uns zur Tradition und ich liebte sie.

Dann endlich kam der Bus und ich stieg ein. Als ich mich hingesetzt hatte, fuhr er los und ich starrte aus dem Fenster. Mit dem Wechsel der Schule hatten meine Probleme angefangen, doch trotzdem war ich froh, dass meine alte Schule geschlossen hatte. Sonst hätte ich niemals Frau Vogel kennengelernt, aber auf der anderen Seite wäre noch alles gut mit Sophia gewesen. Sie bereitete mir wirklich Bauchschmerzen. Aber ich musste ihr tatsächlich etwas Zeit geben. Auch wenn es mir total schwerfiel und ich am liebsten sofort mit ihr geredet hätte, aber das hatte keinen Sinn. Sie würde sich nur verschließen und es würde im erneuten Streit enden. Das wollte ich auf gar keinen Fall. Aber ich vermisste sie. Ich vermisste meine beste Freundin. Ich biss mir auf die Lippe. Und meine Lehrerin vermisste ich auch.

Es zerriss mich innerlich, wenn Frau Vogel sich von mir entfernte. Vor allem mit diesen Worten. In meiner Brust breitete sich dann immer ein ganz merkwürdiges, hohles, leeres, aber doch nicht leeres, Gefühl aus, was ich nicht richtig beschreiben konnte. Es zog sich alles in mir zusammen. Ich sehnte mich nach ihr und diese Gefühle waren neu. Und intensiv. Dann hielt der Bus an meiner Haltestelle und ich lief nach Hause. Dort ging ich direkt in mein Zimmer und schmiss mich auf das Bett. Als ich mein iPhone hervorholte, sah ich, dass Leon mir schon vor einer halben Stunde eine Nachricht geschickt hatte. Ich öffnete sie. »Melde dich, wenn du reden willst. Dann komm ich vorbei.« Ein leichtes Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Wenigstens auf ihn konnte ich mich verlassen.

Mitten ins Herz || txsTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon