Kapitel 22

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Ich saß vor meinem Schrank. Mein Blick war starr auf die linke Tür gerichtet. Nicky hatte gleich nach unserem Treffen im Park mitkommen wollen, doch ich hatte sie vom Gegenteil überzeugen können. Mich meiner Geige und der Musik wieder anzunähern war schon ohne Zuschauer schwer genug. Momentan bekam ich es ja nicht mal hin, diese verdammte Tür zu öffnen. Am liebsten würde ich das Ganze weiter aufschieben, wenigstens auf nächsten Monat. Aber das wäre zu spät. Also blieb mir nur die Hoffnung, dass ich es irgendwann schaffte, mich aus meiner Starre zu lösen.

Mein Handy klingelte. Dankbar für die Ablenkung ging ich ran, ohne den Namen des Anrufers zu lesen.

„Und? Bist du schon so weit?" Nicky sprach so laut, dass ich mein Handy ein Stück von meinem Ohr weghielt. Im Hintergrund hörte ich Menschen. Ich konnte aber nicht ausmachen, wo genau sie war.

„Nein!", ich passte meine Gesprächslautstärke ihrer an. „Ich habe seit fast acht Jahren nicht mehr gespielt, was erwartest du von mir?"

„Dass du es versuchst!", im Hintergrund wurde es etwas leiser und Nicky konnte wieder normal sprechen. „Acht Jahre? Wann hast du denn angefangen?"

„Ich habe mit sechs angefangen. Zuerst bekam ich einmal wöchentlich Unterricht. Um mein Gequietsche Zuhause nicht ertragen zu müssen, bezahlten meine Eltern ziemlich schnell dreimal die Woche Unterricht. Und da mich mein Lehrer mochte, hatte er mir erlaubt, die Übungsräume auch außerhalb dieser Zeit nutzen zu dürfen, sofern sie gerade leer waren. Ich bin praktisch gar nicht mehr Zuhause gewesen." Es fühlte sich eigenartig an, darüber zu reden.

„Klingt, als hätte es dir Spaß gemacht. Warum hast du dann aufgehört?"

Kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag hatten meine Eltern, nicht von mir wohlbemerkt, davon erfahren, dass ich schwul war. Meine Mom hatte gelassener reagiert als mein Vater. Was aber auch nicht schwer war, wenn man bedachte, dass dieser in einem Wutausbruch eine meiner Geigen zerstört hatte. Seit diesem Tag konnte ich nicht mehr spielen, ohne daran zu denken.

Trotz meiner Offenheit Nicky gegenüber, gab es Dinge, über die ich einfach nicht reden wollte. Immer noch auf den Schrank starrend antwortete ich somit: „Aus Gründen."

Nicky besaß genug Feingefühl, um nicht weiter nachzuhaken. „Ich komm morgen um 15:30 Uhr bei dir vorbei, schick mir bis dahin deine Adresse. Und lass dich nicht unterkriegen, wir schaffen das schon. Ich muss wieder los, wir sehen uns."

Sie legte auf, ich hörte ein paar Momente lang dem Tuten zu. Mein Blick nicht eine Sekunde lang vom Schrank abgewandt.

Einem plötzlichen Energiestoß folgend steckte ich mein Handy zurück in die Hosentasche, riss die Schranktür auf und grub mich bis zum hinteren Teil durch. Mein Zimmer mochte vielleicht ordentlich sein, aber mein Schrank war es nicht. Als meine Fingerspitzen den Geigenkoffer berührten, zuckte ich zurück, als hätte ich mich verbrannt. Ich sammelte mich einen Moment, dann zwang ich mich dazu, ihn zu greifen und herauszuziehen. Eine Welle der Melancholie durchspülte mich. Federleicht strich ich über die Kante, blieb an einer der Schnallen hängen und ließ sie aufschnappen. Ich atmete tief durch, bevor ich auch die andere Schnalle öffnete und den Koffer aufklappte.

Dort, auf schwarzem Velours, lag sie. Mein Blick fuhr liebkosend über die einzelnen Wirbel, wanderte dann den Hals hinunter bis zum Korpus, nahm jedes Detail in sich auf. Das kastanienbraun lackierte Holz schimmerte im Licht, als würde die Geige mich dazu einladen, meine Hände über ihren Körper gleiten zu lassen. Mich packte eine solche Sehnsucht, dass ich mich fragte, wie ich all die Jahre nicht hatte spielen können. Vorsichtig hob ich meine Geige aus dem Koffer, legte sie auf meinen Schoß und strich zärtlich übers Holz. Ein kleiner Teil von mir machte sich über mein Verhalten lustig, doch ich ignorierte ihn. Und wenn schon, es sah mir ja keiner zu.

Never enoughWhere stories live. Discover now