#11-Der Quälgeistbruder und ein Familientag

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Ich schlucke mehrmals und atme ein paar Male tief ein und aus, bevor ich mich wieder einigermaßen beruhigen kann. Mit meinem Handrücken wische ich mir die getrockneten Tränen von den Wangen und Augen, ohne dabei meine heute Morgen schnell aufgelegte Wimperntusche zu verwischen.

Kopf hoch und weiter ! Ich bin stark und lasse mich nicht wieder von Steve in den Abgrund stürzen. Diesmal hab ich die Macht über ihn und nicht andersherum wie beim letzten Mal! Murmle ich immer wieder leise vor mich hin.

Mittlerweile sitze ich bei mir zu Hause in der Küche auf meinem Lieblings Stuhl, die Beine angezogen und meine Arme darum geschlungen, um mich so klein wie möglich zu machen. Mein Handy liegt unberührt vor mir auf dem Tisch und ich starre wie gebannt darauf. Zwischendurch leuchtet es immer wieder auf und zeigt mir, dass ich neue Nachrichten empfange, von wem kann ich nicht sehen und gerade ist mir das auch ziemlich egal.

Ich kann mich einfach nicht dazu aufraffen, ihm zurück zu schreiben. Ich weiß noch nicht mal was ich schreiben sollte. Eigentlich habe ich auch wirklich nicht die Zeit dazu hier zu sitzen und nichts zu machen, ich sollte lieber schon einmal mit meinen Hausaufgaben anfangen, damit ich noch ein bisschen ins Tanzstudio kann. Das hatte ich mir für heute fest vorgenommen. Aber es geht einfach nicht. Es ist als hätte ich keine Macht mehr über meinen Körper, als könne ich ihn nicht mehr bewegen. Gruseliges Gefühl.

Ein Schlüssel, der sich deutlich hörbar im Schlüsselloch dreht und unsere Haustür, die laut aufgerissen wird, holen mich aus meinen Gedanken heraus, zurück in die Realität. Jedoch nicht aus meiner starren Sitzposition.

„Ich bin wieder dahhaaaa!“ schreit meine Mutter, während sie mit vollbepackten Einkaufstüten, die Küche betritt. Lautes Gepolter von der Treppe sagt uns, dass mein kleiner Bruder gerade die Treppe herunter stürmt und gleich mit breitem Grinsen in der Küche steht. Das bewahrheitet sich auch drei Sekunden später.

„Mamaaa, Mamma, Maaammmmaaaa? Hast du mir etwas mitgebracht?“, fängt er an zu quengeln und macht sich an die beiden großen Einkauftstüten, die jetzt auf der Ablage unserer Kücheninsel stehen und beinahe überquellen. Meine Mutter hält ihn mit einem Arm fest und zeigt mit ihrer anderen Hand auf mich.

„Warte Justus, weißt du was mit deiner Schwester los ist?“

Sie schaut mich nachdenklich, und auch ein wenig ängstlich an.

„Nööhhöö!“, stöhnt er genervt und reißt seinen dünnen Arm aus dem Griff unserer Mutter.

„Die sitzt hier schon so, seit ich von der Schule gekommen bin. Keine Ahnung was da schon wieder los ist. Aber ich glaube irgendetwas mit Steve, sie bekommt die ganze Zeit Nachrichten von ihm und antwortet nicht.“

Achselzuckend macht er sich weiter daran die Einkaufstüte auszupacken, um etwas zu finden, was Mama ihm mitgebracht hat.

Dieser kleine Quälgeist. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass er auf mein Handy geschaut hat, als er vorhin kurz in die Küche gekommen ist, mit seiner Hand vor meinem Gesicht rumgewedelt hat, um dann ohne ein Wort zu sagen wieder heraus lief. Der hat Nerven.

Meine Mama beobachtet mich kritisch, bis sie sich auf einmal auf den Stuhl neben mich setzt und eine Hand auf mein Knie legt. Dieselben Augen, die mich morgens aus dem Spiegel immer mustern, schauen mich nun besorgt an.

Wenn man meine Mutter so vom Nahen betrachtet, sieht man, dass sie sich noch wirklich gut gehalten hat. Nur ein paar wenige Lachfältchen um ihre Augen herum verraten einem, dass sie langsam auf die Mitte Vierzig zugeht. Ihre braunen, welligen, Haare haben noch ihre Naturhaarfarbe und eine sportliche Figur, von ihren ständigen Besuchen im Fitnesscenter hat sie außerdem. Alles in einem ist sie eine wirklich hübsche Frau und ich bin stolz, dass ich so eine schöne Mutter habe. Mein Vater sollte sich mal wirklich besser um sie kümmern, doch auch er ist für sein Alter ungewöhnlich attraktiv.

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