Kapitel 19 - Normalität

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Mo., 04/27/2020, 11:17 AM

Ich packte meinen Lunch aus und schaute mich in der lärmenden Cafeteria um. Es war ein ganz normaler Schultag, aber nach einer Woche Zwangsferien sah ich es als Privileg, wieder hier zu sein. Die ganze Geschichte hätte auch mit einem Rausschmiss enden können.

Ray saß mir gegenüber und biss gerade in sein Sandwich. Wir hatten heute noch nicht viel gesprochen, denn ich war immer noch nicht sicher, was ich ihm erzählen sollte. Zum Einen war da die Sache mit Gavin Markle, zum Anderen das mit Doug. Und dann noch das Problem mit Skipper.

Als ich gestern mein Handy eingeschaltet hatte, hatte ich mich allem gerechnet. Verpassten Anrufen, wütenden SMS. Aber als ich mich durch eine Welle von Rays Nachrichten und Nachrichten meiner Freunde gekämpft hatte, war da nichts gewesen. Rein gar nichts. Kein Anruf, keine Nachricht. So als hätte Skipper gewusst, was vorgefallen war. Und diese Stille machte mich verdammt nervös. Was hatte sie zu bedeuten?

"Normalerweise isst man während der Lunchpause", holte mich Rays Stimme in die Wirklichkeit zurück.

Ich starrte auf mein Sandwich, das ich gerade halb zerquetschte, und stopfte es schließlich zurück in die Tüte. Ich hatte keinen Hunger.

"So schlimm?", fragte Ray.

Ich wusste zwar nicht, was genau er meinte, aber ich nickte langsam.

"Willst du es mir erzählen? Nicht hier, später. Unter vier Augen."

"Hausarrest, schon vergessen? Aber meine Mum arbeitet bis heute Nachmittag. Du kannst nach der Schule kurz vorbeikommen", schlug ich vor.

Ray stimmte zu und so machte ich mir den restlichen Tag Gedanken, was ich ihm sagen sollte. Generell hatte ich meinen besten Freund in den letzten Wochen wohl ein wenig vernachlässigt, ich schuldete ihm etwas von meiner Zeit. Schließlich hatte er mir letzten den Arsch gerettet und war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte.

Ray und ich ließen uns auf meine Couch fallen und öffneten je eine Dose Cola. Ich nahm einen Schluck und die Kohlensäure brannte schmerzhaft in meiner Nase. Ray beobachtete mich, nippe an seiner eigenen Cola und fragte schließlich: "Also, was gibt es Neues?"

Ich erzählte von Skippers Funkstille und von Gavin Markles Warnung. Die Tatsache, dass er mich gewürgt hatte, ließ ich aus. So wirkte seine Drohung allerdings nicht sehr bedrohlich.

Ray zuckte mit den Schultern: "Scheint ein Idiot zu sein. Wenn das Handy weg ist, dann ist es jetzt wohl weg."

Ich nickte: "Ja ... da ist noch was, Kumpel."

Seine Miene wurde neugierig, als ich abbrach. Ich wollte Ray von Doug erzählen, wusste allerdings nicht, wie er reagieren würde. Schwule waren bei uns in all den Jahren irgendwie nie ein Thema gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie er über Homosexualität dachte. Aber ich wollte es ihm erzählen und betete, meinen besten Freund nicht zu verlieren. Ich wusste, dass es sehr unerwartet kam. Für mich waren die Gefühle schließlich auch neu.

"Was denn? Du kannst mir alles sagen, das weißt du doch, Mann", Ray boxte mir auf die Schulter.

"Ich habe dir doch von Douglas erzählt letztens", fing ich an.

Ray nickte: "Ja, dein neuer Freund."

"Naja, er ist irgendwie mehr als das. Wir sind zusammen", ich starrte auf die Coladose in meinen Händen, "Ich bin schwul."

Ray war für einen Moment still. Als er wieder etwas sagte, war seine Stimme vorwurfsvoll: "Ernsthaft? Was ist aus unserem Pakt geworden, dass wir potentielle Dates einmal abchecken, damit wir nicht an irgendwelche Verrückten geraten?"

Ich hob meinen Blick wieder und schaute in sein feixendes Gesicht: "Ich dachte, der Deal galt nur für die Middle School."

"Da hast du falsch gedacht! Ich hätte einen kompletten Backgroundcheck gemacht. Aber vor allem hättest du mal früher was sagen sollen", Ray schüttelte kurz den Kopf, "Hast du nicht schon genug Probleme? Dann noch ein fester Freund?"

Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und unendliche Dankbarkeit durchflutete mich: "Was soll ich tun? Es kam irgendwie alles auf einmal."

Ray rückte näher an mich heran und schnappte sich mein Handy vom Schreibtisch neben mir, bevor ich reagieren konnte: "Jetzt will ich mindestens ein Foto sehen."

Also entsperrte ich mein Handy und öffnete WhatsApp. Dougs Profilbild zeigte ihn in seiner Football-Uniform und dem Hintergrund nach zu urteilen, war es letzten Herbst aufgenommen worden. Seine Haare waren ein gutes Stück kürzer als jetzt.

"Nicht dein Ernst!", rief Ray aus, "Wie kannst du nur mit einem Rivalen unserer Schule zusammensein!"

"Ist Rivale nicht etwas überzogen? Außerdem interessiert mich Football nicht wirklich, das weißt du."

"Aber du warst doch beim Spiel und fandest es gut!"

Ich räusperte mich: "Naja, das war vielleicht etwas gelogen."

Ray boxte mich erneut, diesmal war es schmerzhaft: "Idiot. Aber hat er nicht sogar in der gegnerischen Mannschaft gespielt?"

Mein bester Freund deutete auf die Uniform, ich nickte: "Ja, er hat sich verletzt in der zweiten Spielzeit."

Seine Stirn legte sich in Falten, dann schossen seine Augenbrauen in die Höhe: "Warte mal ... war das nicht dieser O'Callaghan? Du bist bei den O'Callaghans eingebrochen? Du bist mit Douglas O'Callaghan zusammen?"

Ich nickte langsam. Ray hatte Eins und Eins zusammengezählt, obwohl ich ihm dieses Detail bisher verschwiegen hatte. Aber Dougs Familie war schließlich stadtbekannt, wenn auch wegen all der negativen Gerüchte und Geschichten.

"Und jetzt seid ihr zusammen? Die sind doch voll reich und ....", Ray brach ab, aber ich wusste, was er dachte.

Ich nickte erneut: "Ja, aber man merkt es ihm kaum an. Und er ist nicht so wie seine Eltern ... auch wenn ich die noch nicht kennengelernt habe."

"Nette Menschen können sie nicht sein ....", mein bester Freund wirkte nachdenklich.

"Deswegen hat Doug ihnen auch nichts erzählt. Sie wissen nicht mal, dass er bi ist", meinte ich, "Laut ihm würden sie ihn rauswerfen."

"Das ist übel ... und deine Mum?"

"Die weiß Bescheid und es stört sie nicht ... Apropos, sie sollte bald hier sein und wenn sie dich erwischt, wird mein Hausarrest wahrscheinlich noch verlängert."

Ich warf Ray nur ungern raus, aber ich hatte Recht. Meine Mum war noch ziemlich aufgebracht wegen den letzten Vorkommnissen. Und so langsam musste mal wieder Ruhe einkehren, schließlich erholte sie sich noch immer von ihrer Krebserkrankung.

Als mein bester Freund gegangen war, starrte ich meine Wand an. Ich hatte den kompletten Schulstoff mittlerweile aufgearbeitet. Die Prüfungen nahten zwar, aber anders als für Doug waren es nicht meine Abschlussprüfungen. Seufzend kramte ich nach meinem Chemieordner, um zumindest vor dem Nachschreibtermin des Tests noch einmal alles durchzulesen.

Irgendetwas sagte mir, dass die nächsten Wochen nicht sonderlich spannend werden würden. Es sei denn, Skipper kehrte aus dem Untergrund zurück, um mich erneut zu erpressen. So lange würde ich meine Ruhe allerdings in vollen Zügen genießen.

TOUCH (LGBTQ | boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt