Kapitel 10

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„Wo hast du den Kürbis eigentlich hingetan?", fragt Michi, als wir mit dem Essen fertig sind. „Der liegt, glaub ich, noch im Vorzimmer. Ich kann ihn holen, wenn du magst. „Nein, schon in Ordnung. Ich hol' ihn und magst du dann schon mit dem Schnitzen beginnen?" „Ja klar, du holst den Kürbis, ich die Vorlage", sage ich und gehe das Motiv, welches wir vorhin schon ausgedruckt haben, holen. Es sieht nicht allzu gruselig aus, eher süß. „Boah, ist der schwer. Wie sollen wir den denn geschnitzt bekommen?" „Na, zum Glück hab' ich so einen starken Freund" Er bleibt kurz stehen und schaut mich mit einem Blick an, der mehr sagt, als tausend Worte. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass du jetzt offiziell meine Freundin bist", sagt er, während er den Kürbis abstellt. Er kommt zu mir und nimmt mich in den Arm. Ich lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab und atme seinen Duft ein – er riecht einfach so gut. Als wir uns voneinander lösen, schauen wir uns intensiv in die Augen. Er kommt immer näher an meine Lippen heran und wir küssen uns. Ich spüre, dass er lächelt. „Ich bin so glücklich, wenn ich bei dir bin." „Das kann ich nur zurückgeben" Sein strahlend weißes Lächeln ist so süß, ich könnte ihn stundenlang ansehen, doch der Kürbis wartet. „Sollen wir beginnen?" „Womit denn?", sagt er und kommt wieder näher. „Mit dem Kürbis", flüstere ich. „Ich kann nicht aufhören, dich zu küssen." „Der Kürbis wartet", versuche ich es nochmal, aber wenn er jetzt nicht aufhört, werde auch ich nicht mehr widerstehen können. „Soll er doch warten", sagt Michi und küsst mich weiter und ich muss sagen, ein Kürbis war mir noch nie so egal wie jetzt im Moment.

„Aber das Messer ist echt scharf, mit dem müssen wir gut aufpassen." „Hast du etwa Angst?" Er verdreht die Augen und ich merke, dass er etwas sagen wollen würde, es dann aber doch lässt. Zuerst schneiden wir den Deckel ab und danach schnitzen wir das Gesicht rein. „Wow, da merkt man, dass du viel operierst", lache ich. „Endlich mal wofür zu gebrauchen", sagt er scherzhaft und konzentriert sich wieder. „So, jetzt noch die Augen – da kann man eigentlich wenig falsch machen, sind ja nur noch zwei Dreiecke. Willst du mal?" „Wow, danke. Das wo man wenig falsch machen kann, darf ich erledigen" „Ganz genau" „Ich werd's dir schon zeigen", sage ich und nehme ihm das Messer aus der Hand. Ich schneide wunderschöne Dreiecke in den Kürbis, jedoch geht das Messer beim letzten Schnitt irgendwie schwerer durch und schneller als ich schauen kann, durchzieht mich ein scharfer Schmerz. „Au", rufe ich und lasse das Messer fallen. „Ok, ruhig bleiben", sagt Michi, als er sieht, dass ich kurz davorstehe, richtig panisch zu werden. „Alles gut, ich hol Taschentücher, die machen wir da erstmal drauf" Er geht kurz, kommt aber gleich darauf mit ein paar Taschentüchern und einer kleinen Flasche wieder. Als ich erkenne, was da drin ist, werde ich komplett panisch und will aufspringen und weglaufen. Mit den Worten: „Hey, hiergeblieben. Ganz ruhig", hält er mich zurück und zieht mich schnell in seine Arme. Ich versuche zu entkommen, aber er ist eindeutig stärker. Irgendwann merke ich, dass Widerstand zwecklos ist und ich keine andere Wahl habe, als mich zu beruhigen. „Tief ein- und ausatmen", sagt Michi ab und zu und streichelt mir den Rücken. Nach ein paar Minuten in seinen Armen, mithilfe seiner beruhigenden Art und seiner warmen Stimme, hab' ich mich wieder ein bisschen beruhigt. „Ok, so ist's gut. Darf ich mir den Schnitt mal anschauen? Nur schauen, ich fasse nichts an." „Versprochen?" „Versprochen" Ich überlege kurz, gebe ihm aber dann meinen Finger. „Ok, alles halb so wild. Er ist zwar etwas tiefer, aber das verheilt von selbst wieder. Ich würde die Wunde aber doch gerne etwas desinfizieren." „Nein!" „Jetzt beruhig dich wieder. Wir machen's so: Ich tue das Wattepad auf deinen Finger und wir zählen bis 10. Es wird ein bisschen brennen, aber das ist alles. Danach lass ich dich in Ruhe." „Ich weiß nicht" „Du kannst mir vertrauen. Bei 10 ist alles vorbei" Ok, ich schaffe das. Ich schaffe das. „Na gut" „Super, ich versprech' dir, es ist schneller vorbei, als du schauen kannst. Darf ich deine Hand haben?" Ich gebe ihm meine Hand und er legt sie auf seinen Schoß. Danach tunkt er das Wattepad ein und sieht mich an. „Alles ist gut. Erinnere dich: 10 Sekunden. Komm, wir zählen gemeinsam." Als er beginnt, die Wunde zu desinfizieren, spüre ich ein schmerzhaftes Brennen. Aber so schlimm, wie ich dachte, ist es tatsächlich gar nicht. „Ganz ruhig, gleich vorbei", sagt er, als wir zu Fünf kommen und bei Null nimmt er, wie versprochen, sofort das Wattepad weg und zieht mich in seine Arme. Er lobt mich, weil ich das so toll gemacht hab – sagt zumindest er. Ich schäme mich eigentlich dafür, dass ich wegen dem so einen Aufstand gemacht hab. „Was ist denn los? So schlimm?", fragt er mich und sieht mich bemitleidend an. „Ich schäme mich nur dafür, dass ich so ein Theater gemacht hab und das nur wegen dem. Er nimmt mich wieder in den Arm und sagt: „Was redest du denn da? Du hast das ganz toll mitgemacht. Ich verstehe deine Angst vor diesen Dingen und möchte dir so gut es geht helfen. Du brauchst dich für nichts zu schämen. Alles ist gut. Wir werden das schon gemeinsam in den Griff bekommen und du hast ja jetzt gesehen, dass das gar nicht schlimm war." „Schauen wir mal", sage ich etwas trotzig und umarme ihn zurück – so gut das halt im Sitzen geht. „Soll ich noch schnell den Kürbis fertig schnitzen?", fragt er mich. „Ja, danke. Auf den hätte ich jetzt komplett vergessen. Können wir dann aber nachher Netflix schauen und kuscheln?" „Wie dumm wäre ich, wenn ich dazu nein sagen würde?", sagt er und gibt mir einen sanften Kuss auf die Lippen, wodurch die Schmerzen in meinem Finger wie vergessen sind. 

Warum ausgerechnet Arzt? (Teil 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt