|| 66 || Schutt und Trümmern - Part 2

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Ich springe von meinem Stuhl auf, bereit für einen Kampf. Erst langsam realisiere ich, dass dieses Mal nicht ich um mein Leben kämpfen muss.

Mein Blick huscht zu Miguel. Ich kann nicht sagen, was es ist, aber etwas hat sich verändert. Sein Daumen zuckt. Meine Augen springen zu den Monitoren. Das Diagramm, welches seinen Atemrhythmus zeigt, sieht anders als sonst aus. Ich bin kein Arzt, aber das rote blinkende Alarmzeichen in der Ecke des Monitors und der laute Alarm sprechen für sich selbst.

Ärzte stürmen herein, versammeln sich um ihn, schreien sich Anweisungen zu. Starr stehe ich da, nicht fähig mich zu bewegen. Jemand zerrt an mir. Ich nehme Leandros Stimme war, höre seine Worte nicht. Mein Gehirn ist wie stillgelegt, wie auf Pause gedrückt.

Leandro legt seine Arme um mich, hebt mich im Brautstyle hoch und drückt meinen zitternden Körper an sich. Tränen fließen meine Wange herab. Dann erwache ich aus meiner Starre, schlinge meine Arme um seinen Nacken, vergrabe mein Kopf an seiner Brust, verschließe meine Augen vor dem Grauen das sich Realität nennt.

Vor der Tür lässt mich Leandro wieder herunter. Ich plumpse auf einen Stuhl, raufe mir die Haare. Stumm fließen die Tränen. Das Bewusstsein der gegenwärtigen Realität wird verdrängt von Erinnerungen. Erinnerungen die mich zum Grinsen brachten, nun jedoch Schluchzern und Beben durch meinen Körper jagen.

Erinnerungen, wie wir geritten sind und uns im Wald verirrt haben.
Erinnerungen, wie wir auf dem Spielplatz stundenlang Fangen spielten.
Erinnerungen, wie er mir seinen neuen Skateboard Trick vorgeführt hat.
Erinnerungen, wie Miguel und ich auf einer Blumenwiese lagen, Sterne beobachten und über die Welt philosophierten. Damals dachte ich, meine Eltern würden mir beiseite stehen, während ich die Mafia übernehme, würde unzertrennlich mit Miguel verbunden sein und alles würde irgendwie so funktionieren, wie ich es mir vorstellte.

Ich wische mir meine Tränen fort, atme tief durch.
Das Leben hat mir gelehrt, dass ein Plot Twist den nächsten jagt und nichts läuft, wie geplant. Jedoch hat bisher fast alles letztlich zu einem gleichguten oder sogar besseren Ergebnis geführt. Ohne den Krieg mit Luigi hätte ich vermutlich nie erfahren, dass meine Mutter am Leben ist. Ohne den Krieg hätte ich nie Leandro kennengelernt. Ohne den Krieg hätten sich Sergio und Cassian nicht gefunden. Ohne den Krieg würde mein Leben nun ganz anders aussehen.

Ob ich in einer anderen Realität glücklicher wäre?

Mein Blick schweift zu Leandro, der neben mir sitzt, den Kopf auf den Händen gestützt. «Was wolltest du mir vorhin sagen?»
Überrascht hebt er seinen Kopf, sieht mich mit großen Augen an. Er faltet seine Hände zusammen, massiert sich diese nervös. Kurz hält er den Atem an. «Ich wollte mich entschuldigen.»
Ich runzele meine Stirn. Dann blitzt das Bild von ihm, wie er die Tussi küsst, vor meinem inneren Auge auf. Leicht schürze ich meine Lippen und verschränke meine Arme vor der Brust. Leandro öffnet seinen Mund, allerdings komme ich ihm zuvor: «Hat Luigi dich gezwungen?»
Mit Lippen so dünn wie eine Linie nickt er den Kopf. «Ja, Luigi hat–»
«Nicht jetzt», unterbreche ich ihn. Ich schüttele meinen Kopf. Wir werden früh genug Zeit finden, alles auszusprechen. Das Krankenhaus ist nicht der richtige Ort dafür.

Außerdem habe ich gerade weder die Nerven, noch die Kraft ihn meine Wut spüren zu lassen. Denn, obgleich Luigi ihn gezwungen und bedroht hat, hat er bewusst vor meinen Augen eine andere geküsst, hat mir bewusst das Herz gebrochen, ohne mir auch nur den kleinsten Hinweis, dass das nicht sein freier Wille war, zugeben.

Meine Gefühle für ihn mögen ins Unendliche und weiter reichen, doch mit mir spielen lasse ich nicht. So leicht wird er nicht davonkommen. Noch weiß ich nicht, ob ich jemals wieder ihm wie früher vertrauen kann, aber ich weiß, dass meine Gefühle sich nicht geändert haben.

Vielleicht kommen wir wieder zusammen, werden gestärkt aus dem Krieg hervorkommen, aber noch ist Nachkriegszeit. Noch müssen der Schutt und die Trümmer erst wieder aufgebaut werden, eins nach dem anderen. Das wird Zeit kosten, aber mit etwas Geduld wird von dem Krieg keine Spur zurückbleiben, nur die Erinnerungen, die für immer uns im Herzen und im Kopf verfolgen werden.

«Wir sollten uns morgen treffen, um Geschäftliches zu besprechen.» Wie es nun weiter gehen sollen, was wir mit Luigis Mafia machen und was wir mit dem Menschenhandel sowie den beteiligten Personen machen. Wir haben einiges zu besprechen. Unsere Gefühle, alles Private, wird warten müssen.

Falls unsere Liebe so stark ist, wie es anfangs wirkte, dann werden wir auch diese Zeiten überstehen.

Plötzlich eilt ein Arzt auf uns zu. «Miss Salvatore?» Meine Augen weiten sich, eilig stehe ich auf. «Mister Ancelotti ist aus seinem Koma erwacht.»

Erleichterung schwappt über mich, Tränen kitzeln hinter meinen Augen. Vom Glück überwältigt, falle ich Leandro in die Arme, vergieße zwei Tränen. Für einen Sekundenbruchteil erstarrt Leandro, bevor er seine Arme um mich schlingt und mich an sich drückt, während er mit seiner Hand über meinen Kopf fährt.

Heimat. Das Gefühl von Heimat. Geborgen, beschützt und geliebt. Ich schließe meine Augen, atme seinen Duft ein, lausche seinem Herzensklang und genieße seine Berührung auf meiner Haut.

Für einen Moment stelle ich mir vor, alles wäre in Ordnung. Und für diesen Augenblick ist es auch. Meine Mutter wartet zuhause auf mich und alle meine Liebsten sind am Leben.

Wie lange der Frieden anhalten wird?

Ich weiß es nicht, jedoch werde ich jede einzelne Sekunde genießen. Heute wurde mir wieder einmal bewusst, wie schnell sich alles verändern kann, wie nah das Leben an den Tod grenzt. Eines Tages werde ich aufwachen und den Klauen des Todes nicht entfliehen können. Ganz unerwartet, von einem Moment auf den anderen, kann mein Leben ein Ende nehmen.

Jeder Tag könnte der letzte sein. Wieso also nicht leben, als wäre jeder Tag der letzte?

Auf mich wartet noch eine lange, steile Reise, die mich an meine Grenzen bringen wird, aber nur indem wir unsere Komfortzonen sprengen, entwickeln wir uns weiter.
Das Leben ist ein Prozess des Werdens. Niemand weiß, ob der Tod das Ende des Werdens darstellt, oder nur ein Neuanfang ist. Aber bis wir dies herausfinden, wartet ein langer Weg auf uns.
Ein Weg voller Freuden und Schmerzen, Liebe und Verrat.
Ein Weg des Wachsens, des Ich-Werdens.
Und mein Weg ist noch lange nicht beendet.

«Avyanna!» Sergios Stimme hallt an den Wänden wider. Ich löse mich aus Leandros Umarmung, runzele meine Stirn. Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass mein Weg in diesem Moment eine neue Wendung genommen hat.
Eine Wendung, die mir nicht gefallen wird.

Sergio bleibt schweratmend vor Leandro und mir stehen. Dünne Lippen, scharfe Wangenkonturen, steife Körperhaltung. Seine leicht gesenkten Augenbrauen werfen einen tiefen Schatten auf seine Augen. «Vincenzo konnte fliehen.»

Das Leben hält doch immer eine Überraschung offen.
In diesem Fall hätte ich gerne auf diese verzichtet.

Ich seufze. «Der Krieg geht wohl in die zweite Runde.»

Mafia Romance 1 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt