Neun

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~ Linn ~

Nachdem ich meinen Eltern mehr oder minder panisch beigebracht habe, dass ich ihre Gesichter nicht erkennen konnte, meinten beide einstimmig, dass wir eindeutig tief in der Patsche saßen. Ziemlich ziemlich tief.
Denn das ist nach der ersten Versiegelung vor fast dreizehn Jahren nicht in dem schlimmen Ausmaß gesehen.

Ich wurde auf das Sofa verfrachtet und musste mich zwangsweise an den Anblick gesichtsloser Menschen gewöhnen, was schon sehr komisch war. Damals hatte ich im Allgemeinen zwei Wochen lang verschwommen gesehen, was mit strapazierten Augen zusammenhing - aber jetzt waren es nur Gesichter. Das ist spezifisch. Und das verhieß gar nichts gutes.

Mama kochte mir einen Tee und etwas zu essen, weil ich buchstäblich am Verhungern war. Papa telefonierte angeregt und verzweifelt mit Cassandra - der Oma von meiner früheren besten Freundin Laura. Cassandra fungierte in unserem und anderen Rudeln als Heilerin. Schonvoll versuchte Papa ihr die ganze Situation zu erklären, während ich mich irgendwie - ich wusste wirklich nie wie - die Stufen hinauf schleppte.

Leise verschwand ich in meinem Zimmer und sah mich um. Alles stand an seinem Platz. Der weiße Tisch mit Schulsachen und Schreibtischstuhl auf der linken Seite. Die Wand mit den Schränken auf der rechten Zimmerseite, die ich lachend und streitend mit Noah dem 'wer braucht schon eine Anleitung'-König aufgebaut habe. Mein Bett das aus Kommoden und einer dicken Matratze bestand mit der weichen pastellfarbenen Bettwäsche. Rechts neben dem Bett stand ein provisorisches Nachtkästchen, das Noah aus irgendetwas provisorisch zusammengebaut hat - ich vermute, dass es aus den Resten seines Bettes war - damit ich meinen Wecker und mein Handy irgendwo ablegen konnte.
Stumm starrte ich einige Zeit aus dem großen, breiten Fenster an der linken Wand. Ich sah die Rückseute von Noahs Haus und irgendwo war auch das Zimmer, dass er sich mit seinem ältesten Bruder Jonas teilte.

Unsicher ging ich zu meinem Schrank und nahm mir eine weiche Jogginghose und einen kuscheligen Pullover heraus. Es war immerhin schon Anfang Oktober. Bevor ich mich umzog, zog ich den dunklen Vorhang vor das Fenster und drehte mich um. Blöderweise sah ich direkt in den Spiegel.
Ich wünschte ich könnte mein Gesicht nicht sehen.

Meine Haut war völlig eingefallen und wirkte so zerbrechlich, wie Porzellan. Ich hatte eigentlich eine mehr oder weniger feminine Figur, aber jetzt wirkte ich nur noch schlacksig. Die Kleidung fiel schlapp an meinem Körper hinab. Eine Woche hatte ich fast geschlafen und mein Körper fing an abzumagern, meine leicht vorhandenen Muskeln wollten sich schon abbauen.
Meine Wangen und mein Schlüsselbein waren total eingefallen. Das schlimmste waren meine Augen. Sie waren in ihrem üblichen karamell, aber sie waren tot.
Meine Haare waren fiel zu lang, als dass ich damit umgehen könnte. Ich müsste mal wieder zum Friseur. Die weiße Strähne schwang erhaben mein Gesicht hinab und ich hätte sie am Liebsten abgeschnitten, doch sie wuchs immer weiß nach.

Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag.

Sechs Tage die ich durchgeschlafen habe.
Konnte man in sechs Tagen überhaupt so tief sinken wie ich körperlich?
Während ich mich umzog, bemerkte ich endlich, dass ich mich auch vor der Versieglung habe gehen lassen.

Seit der Auflösung meines Rudels hab ich den Sport total links liegen gelassen. Wasser hatte ich nie ausreichend getrunken. Seit ich Noah wirklich gut kennenlernen konnte, versank ich in Liebeskummer und aß und trank noch weniger, als ich es davor eh schon wegen dem Stress und der Trauer des Rudelzerfalls getan habe. Genügend Schlaf war ein Märchen für mich geworden.
Mama und Papa hatten recht. Ich hab die Kontrolle über mich verloren. Von meiner seelischen Lage mal ganz zu schweigen.

Und meine Wölfin hatte all das einfach so hingenommen. Sie hatte mir keine Zeichen gegeben, dass ich hungerte oder schwach war. Sie war so verhasst gegen... ach wer wüsste das schon... dass sie mich mit all dem im Dunkeln stehen hat lassen. Sie hat mich manipuliert, sodass mir nicht auffiel, was mit mir geschah.
Außerdem kannte ich das Prozedere.
Während mein Körper im Koma und mein Unterbewusstsein bei der Heilung war, müssen meine Eltern und Leo mir meine Wölfin jeden Tag für kleine Intervalle geben, sodass sie meinen Körper übernimmt und mich gesundheitlich am Leben erhält - also Wasser, Essen und vielleicht sogar Tabletten.
Tja. Entweder sie oder meine Eltern und Leo haben sich nicht an den Plan gehalten. Ich sah nämlich nicht nach gesund aus.

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Where stories live. Discover now