Vierundfünfzig

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¤ Timmy ¤

Als ich sanft wachgerüttelt wurde war es noch tiefdunkel draußen. Ich musste mir mehrmals murrend über die Augen reiben, um zu erkennen, dass ich nicht in meinem Bett lag sondern auf einem Sofa und dann stellte ich unruhig heraus, dass das nicht mein Wohnzimmer war und das Sofa auf das Noah umgezogen war.
"Timmy, komm steh auf.", flüsterte mir eine weibliche Stimme zu, die keinesfalls Mama sein konnte.
Mein Kopf schoss hoch und ich war plötzlich hellwach als ich gerade noch so an Tante Annas Kinn vorbeistriff. Reflexe ließen mich zurückzucken, während mir im Gedächtnis klar und in Farbe die Geschehnisse des letzten Nachmittages und Abends anwesend waren.
"Gehe ich jetzt nach Hause?", hörte ich mich selbst fragen und umgriff die Decke, die bis gerade eben noch auf mir lag etwas fester.

Ich wollte endlich wissen was los war und was alle vor mir verheimlichen. Ich will wissen warum Mama und Papa sich so komisch verhalten haben und mich in Tante Annas Auto getragen und weggeschickt haben. Ich will auch genauso wie Jonas verstehen warum Noah sich gestern so außer sich verhalten hat und seit wann er so schnell wie Mama war.

"Ja." Das Wohnzimmer war dunkel und die Nacht noch voll im Gange dennoch konnte ich gerade noch so nach weiterem Augenreiben und dem schwachen Licht aus dem Flur erkennen, dass Anna nickte. Allein der Gedanke an eine warme Umarmung meiner Eltern ließ mich froh vom Sofa aufspringen und direkt auf die Haustür zu flitzen. Die Uhr im Flur zeigte an, dass es 4:27 Uhr war. Meine Schuhe hatte ich nach meiner Ankunft neben die Haustür und der restlichen Ansammlung an Schuhen abgestellt gehabt doch bevor ich zu denen ankommen konnte, stieß ich mit etwas zusammen. Etwas großes.
Mein Blick richtete sich unsicher hoch, aber ich traf nicht Papas, Noahs oder Jonas Gesicht an. Vor mir stand Jason - mit einem genervten Gesichtsausdruck. Anscheinend hatte er keinen anderen. Dennoch überkam mich kurz eine ängstliche Gänsehaut. Jason war gruselig. Er hatte diesen Blick, der einen die Socken ausziehen konnte und mich sogar lieber ein Bad nehmen ließ als ihm weiter gegenüber zu sitzen. 
"Warum bist du auf?", sprach er mir dann rau zu und ich verzog das Gesicht. 
Gestern Abend konnte er mich nicht früh genug loswerden und jetzt wollte er mich beibehalten? Das will er sich wirklich weiter antun? Hat er keine Selbstachtung?
"Ich gehe nach Hause." Warum war er wach? 
"Um 4 in der Früh?", hackte er mit einem komischen Tonfall nach und sah dann einfach über mich hinüber zu Tante Anna. "Warte, kommt er mit? Mama, verdammt, was ist hier los?" Was los ist sollte erst einmal sein, dass er zwanzig Cent in meine Schimpfsparbüchse warf. 

"Natürlich kommt er mit.", antwortete Tante Anna selbstverständlich und legte mir eine Hand auf die Schulter während sie zu ihrem Sohn sprach. "Alpha hat gesagt alle. Und er hat gesagt so schnell wie möglich. Also hopp!"
Papa? So schnell wie möglich? Mir stockte der Atem als ich herumfuhr. "Was ist passiert? Geht es ihnen gut?" Panik. Nichts anderes als Panik. Unausgesprochene Fragen steckten mir im Hals fest und machten kaum Platz für Luft, die ich doch zum Atmen brauchte. Hatte das hier alles mit dem Trauerheulen von vor ein paar Wochen zu tun? Ist Mama in Ordnung? Papa? Jonas und Noah? War noch ein Trauerheuelen heute gewesen, dass ich verpasst habe?

Annas Gesichts verzog sich zu etwas, was ich jetzt gar nicht ausstehen konnte. Mitleid. Gespielte Sympathie. Ich wandte mich wieder an Jason, der noch immer halbverschlafen und oberkörperfrei herumstand als wenn er auf eine Einladung warten würde oder darauf, dass seine Mutter ihn noch anzog. Wie alt war er? 3? "Na los! Schnell! Komm jetzt!", rief ich ihm unruhig entgegen und versuchte mich an ihm vorbei zu drücken, um aus der Tür zu treten und schon einmal nach Hause vorzulaufen. Sie würden doch anscheinend eh nachkommen. Aber ich schaffte es noch nicht einmal bis zur Türklinke, da wurde ich schon zurückgezogen. 
Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Jasons Brust plötzlich neben mir war. "Moment, Speedy Gonzales. Wohin so schnell? Wir fahren gemeinsam."
"Dann beeil dich endlich!", blaffte ich ihm entgegen. Mama und Papa haben mir versprochen, dass sie mir sagen warum sie mich zu Anna abschieben, als ich in ihr Auto getragen wurde. Allein wegen des Versprechen habe ich mich doch die letzte Nacht über irgendwie noch geduldig gehalten. Aber nun stimmte doch etwas nicht. Die Fragen, die ich mich nicht traute auszusprechen entwickelten sich von einer Blockade in meinem Hals zu einem riesengroßen Kloß. "Ich will doch einfach nur nach Hause... zu meiner Familie." Ich gehörte doch zu ihnen. 

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt