Dreiundvierzig

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~ Linn ~

"Wir brauchen Sekt! Champagner! Wo ist der Kaviar?", rief Leo freudestrahlend durch das Haus, nachdem er mir schon zum vierten Mal die Besprächung genau bis in jedes Detail nacherzählt hat und wie Jason versucht hatte ihn über mich auszufragen. Auffällig subtil. Anscheinend hatte ich dem wohl einmal zu viel die Tür vor der Nase zugeschlagen. "Kannst du glauben, dass das alles keine zwanzig Minuten gedauert hat? Ich habe gedacht, dass es ewig dauern wird und sie mich ausquetschen, als hätte ich wen umgebracht-"
"Aber das haben sie nicht.", vervollständigte ich seufzend und durchblickte die Küchenschränke. "Kannst du mal oben nachschauen, ob da der Kindersekt ist? Irgendwo hatten wir noch eine Flasche davon von meinem Geburtstag übrig." Obwohl es bei Leos weiterführendem Redeschwall nicht so wirkte, sah er dennoch in den oberen Regalen nach. "Sie haben mich gefragt wo ich wohne, was ich im Rudel getan habe und warum wir auseinandergegangen sind - ganz oben links ist eine pinke Flasche - und am Ende hat mich Noah gefragt, ob ich eine bestimmte Stelle in seinem Rudel übernehmen wollen würd-"
"Du bist größer. Kannst du sie runterholen?", unterbrach ich ihn erneut. Dieses Mal frecher, denn Leos Euphorie hat mir schon sieben Mal geschildert, dass er in Noahs Rudel das Archiv leiten wollen würden. "Danke."

Er warf mir einen so empörten Blick zu, als hätte ich ihn mit einer Forelle ins Gesicht geschlagen. Den Gedanken - so wirr er war - fand ich ziemlich amüsant. "Weißt du, Linn, ich bekomme das Gefühl, dass du dich gar nicht für mich freust. Hallo." Damit wank er mir vor dem Gesicht herum und deutete dann mit beiden Daumen auf sich. "Ich wurde heute in ein Rudel aufgenommen. In das von deinem Mate." Schon lachte er wieder irre auf.
"Hol mir die Flasche runter und ich zeig dir wie sehr ich mich für dich freue." Am besten damit wenn ihm der Korken ins Gesicht fliegt.

Während Leo sich aufwandslos nach der Flasche hochstreckte, überkam mich ein kurzes Schütteln. Mein Blick zoomte hinaus, während ich die Kante der Arbeitsplatte fester packte. Etwas stimmte nicht. Mein inneres Gleichgewicht war nicht mehr ausbalanciert. Für einen Moment schloss ich die Augen und blickte in das Schwarz das mir vor den Pupillen lag. "Ich komme gleich wieder.", murmelte ich ihm zu und stieß mich von der Küchenplatte ab.
"Hä? Wohin gehst du denn? Ich hab den Kindersekt.", rief er mir perplex nach.
"Ich muss mich nur schnell umziehen. Das T-Shirt hat einen Fleck.", ratterte ich teilnahmslos hinunter und stieg die Stufen zu meinem Zimmer hoch.

Zuerst ging ich schnurrstracks auf das Fenster zu und schloss es bevor ich wieder einen unangemeldeten Gast bekomme. Als ich den Vorhang zuzog und mich umdrehte, erhaschte ich mein Spiegelbild. Mittlerweise erschrak es mich nicht einmal mehr.
"Was soll das? Glaubst du ich bemerke es nicht - selbst wenn du subtil vorangehst?", sprach ich ruhig aus und trat an den Spiegel heran. "Du nützt seine Freude aus.", warf ich ihr dann gedanklich vor und starrte in den Spiegel. Obwohl es mich jedes Mal vor Wut fast aufschnauben ließ, verfing sich mein Blick ständig auf die weiße Haarsträhne, die mir provokant in die Augen stach. Mit Kraft musste ich mich davon wegreißen und auf meine Augen fokussiert bleiben. "Lass es."
"Aber Linn...", hummte sie mir entgegen. "Orange steht dir so viel besser als dieses komische Karamell. Das ist doch gar keine Farbe."
"Lass es.", wiederholte ich streng.
"Gefallen dir meine Modetipps etwa nicht? Naja, es wäre ja zumindestens auch nicht das erste Mal, dass unsere Meinungen auseinandergehen."
"Wir, ich und besonders du werden ihm nichts tun.", befahl ich betonend und schritt rückwärts zurück, um mich auf meine Bettkante zu setzten. "Ich habe keinen Grund dazu Noah wehzutun."
"Tja, ich schon und damit bist du überstimmt."
"Du spinnst doch. Es ist mein Körper und du hast hier derzeit nichts zu melden."
Sie lachte auch und mich überkam ein Reflex einfach abzuhauen und zu hoffen, dass sie im Spiegel gefangen bleibt. Mein Leben wäre so viel angenehmer gewesen, wenn ich mit einem Spiegelungstalent geboren wäre statt der Gefühlskontrolle. Obwohl... ständig irgendwen Fremdes im Spiegel zu sehen und einzusperren war wahrscheinlich auch nicht so ganz ohne.

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt