Sechsundzwanzig

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{Kira}

"Also wirst du wirklich nicht verschwinden?", fragte ich vorsichtig nach und hielt meinen Blick auf die vollgekritzelte Toilettentür.
"Nein.", bestätigte Linn nun schon zum fünfzigsten Mal und dann klickte nach der Klospülung auch das Schloss ihrer Tür auf. "Das ist nur eine Ausrede, damit wir aus der Stadt kommen.", sprach sie, während sie heraustrat und direkt auf das Waschbecken zusteuerte. "Heute ist Vollmond und wir können die Kraft zurzeit mehr denn je brauchen. Es wäre zu gefährlich in unser altes Gebiet zu gehen oder uns in eurem zu verwandeln. Außerdem ist es auch wichtig, dass ich mich mal wieder verwandeln kann. Den letzten Vollmond musste ich wegen Jason sausen lassen."
"Hä? Warum das?" Was hatte denn Jason mit Linns Werwolfsverwandlungen zu tun? Warum hatte Jason eigentlich immer mit etwas zu tun? Er war gefühlt Teil jedes Dramas und keiner wusste wie oder warum.

"Ja, den Vollmond im September.", seufzte Linn auf, während sie genervt die Seife so sehr auf ihren Händen verrieb, dass ich Angst bekam sie würde sich die Haut abreiben. "Das war ja kurz nach dem Umzug, wo meine Eltern in Dänemark waren und ich alleine zurückgeblieben bin. Ich wollte am Abend in meine alte Siedlung zurück, aber Jason hat mich abgefangen."
"Achja.", fiel mir dann eingeberisch ein. Da war ja mal was.

"Eben und damit es nicht wieder passiert, fahren wir zu meiner Tante. Ihr Rudel kennt uns schon von ein paar Besuchen und sie haben unser Desiderium akzeptiert."
"Ja, genau.", meinte ich perplex. Manchmal frage ich mich, was sie eigentlich alles nicht weißt und wie locker sie einfach alles meint, als wäre es total selbstverständlich. Genauso wie diese Siegelung und so weiter. Verdammt, ich kenne dieses Mädchen jetzt schon aus der Schule so lange und bin immer wieder erstaunt darüber, was alles noch in ihrem Kopf herumlungert.

"Desiderium? ... Akzeptiert? Und das heißt was? Ich dachte man muss den Vollmond im eigenen Rudel und im eigenen Revier verbringen. Das ist ja so ein Rudelding."
Linn wusch sich derweil die Hände fertig und versuchte vergebens ein Papiertuch aus dem Spender zu ergreifen. "Blödes Ding. Warum bist du leer?", flüsterte sie leise, während sie die Hände an ihrer Hose abtrocknete. "Naja, Kira. Prinzipiell kann man eine gewisse Zeitspanne oder einen Vollmond bei einem anderen Rudel verbringen, wenn man rechtzeitig ein Desiderium  - beziehungsweise eine Anfrage - schickt. Es ist respektvoller als einfach aufzutauchen und spontan einen Besuch anzusuchen. Und nein, ein Vollmond ist kein wirkliches Rudelding. Vollmond ist ein Kräftesammeln - genauso wie Schlafen. Je mehr Vollmond du abkriegst, desto besser und manche Rudel haben eben schlechte Karten. In einigen Gebieten kann man beispielsweise den Mond kaum ausleben oder Wälder werden von Menschen überwacht. Ich hab sogar schon einmal miterlebt, dass Familien mit kleinen Kindern zu Vollmonden in andere Rudel gingen, damit das Verwandeln der Kinder professionell überwacht werden kann, da ja manche Probleme damit haben."
"Wow."

Also war es möglich, dass ich eine Weltreise machen kann und jeden Vollmond in einem anderen Land verbringen kann? Papa wird mich hassen für die Pläne, die ich schon im Kopf gebildet habe. Uh, die Gänsehaut fühlte sich trotzdem gut an. "Ich hab immer gedacht, dass es verpflichtend ist im Rudel zu bleiben."
"Nein, du kannst ja theoretisch auch dauernd Rudel wechseln, wenn du willst und vom Rudel angenommen wirst. Neue Rudel bilden sich ja ständig und alte gehen auseinander - nur um einiges weniger dramatisch als bei mir. Die meisten bleiben nur in ihren Rudeln, weil alle anderen vertraut sind und weil man sie kennt, genauso wie den Alpha. Das Rudel ist in so ziemlich jeden Fall auch wie eine größere Familie. Es herrscht halt eine gewisse Gewohnheit, Vertrauen und Respekt im eigenen Rudel zu bleiben - zumeist weil auch die eigene Familie Teil desselben Rudels ist."
Nachdenklich starrte ich an die Decke hoch, während ich an der Fliesenwand lehnte. "Alex war kurz nach dem Rudelswechsel total paranoid. Er hat bei Verwandlungen nie gewusst wer wer ist und ob der Wolf überhaupt Teil unseres Rudels ist. Die anderen haben ihn ja auch noch gar nicht gekannt, Jonas hat ihm unabsichtlich sogar mal Dominanz ausgestrahlt.", fiel mir dann ein und plötzlich machte es alles Sinn. "Also sind die meisten von uns, die über Generationen in einem Rudel sind nur Spießer?" Hat denn keiner von denen je Abenteuerlust verspührt?
"So einfach ist es auch nicht. Ein Rudelwechsel ist ziemlich viel Papierkram und meistens hat man schon eine gewisse feste Stelle und Ansehen im Rudel.", meinte Linn locker und zuckte die Schultern. "Gehen wir jetzt?"

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Where stories live. Discover now