Zweiundzwanzig

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~ Linn ~

Papa teilte mir mit, dass er mit meinem Klassenlehrer und dem Direktor meine Probleme abgesprochen hatte und die Situation bisweilen geklärt ist. Wir blieben bei der Version, dass ich eine schwere Grippe hatte und deswegen die letzten zwei Wochen nicht zur Schule konnte. Zu erklären, dass ich wegen eines emotionalen Vertrauenstraumas keine Gesichter mehr erkennen kann würde sehr schlecht enden - oder eher mit einem Besuch vom Jugendamt. Und um all das zu vermeiden, haben wir uns etwas einfallen lassen. Die rettende Idee kam eigentlich von Cassandra - Lauras Oma - die früher bei uns im Rudel eine Heilerin war. Sie meinte nach einer wirklich langen Grübelrunde, dass wir behaupten können, dass ich kurzsichtig bin und wegen der Grippe gereizte Augen bekommen habe mit denen ich meine angeblichen Kontaktlinsen nicht mehr tragen könne. Brille soll ich auch strikt ablehnen, weswegen die Kontaktlinsen die einzige Rettung gewesen sein soll. Angeblich sehe ich dann allgemein etwas verschwommen, was das Gesichter nicht erkennen kaschieren würde.
Wer das glauben soll? Ich würde es mir selbst nicht abkaufen.

Ich mochte die Lügen nicht, aber ich wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen wenn ich mich im 'Heilprozess' befand. Mama und Papa sagten das so leicht und Leo überdramatisierte alles ins Unermessliche. Endlich konnte ich mal wieder raus aus dem Haus und auf Abstand von den dreien. Es würde zwar nicht all meine Probleme lösen, aber es verhinderte, dass ich irgendwann ausgebüchst wäre, weil es so anstrengend mit den dreien ist - eineingend.

Ich war wolfslos - was sich schlimmer anhörte als es eigentlich war. Es war nicht so, dass ich jetzt sterben würde oder ins Koma verfalle. Die inneren Wölfe waren Unterstützungen mit Einfluss auf die Persönlichkeit. Über all die Jahrzehnte an Evolution haben die meisten Wölfe einfach die Lust verloren jedes Leben selbst zu leiten, weswegen sie sich mehr und mehr zurückgezogen haben und sich nur bedingt zeigen und einfach ihre Kräfte hergaben. Der Mensch war in Leitung und der Wolf nur eine Stütze. Ich hatte sogar gelesen, dass einige Wölfe sich nie zeigten und selbst Verwandlungen ablehnten - womit ihr Halter kein wirklicher Werwolf wäre sondern nur Mensch.

Nach all den beinahe 18 Jahren meines Lebens schien aber bei mir wieder allein nur meine Persönlichkeit aus mir heraus - keine beeinflussende Wölfin mehr. Jetzt war es nur noch einhundert Prozent Linn Hambe.

Irgendwie ging ich mit dem ganzen Versiegeln viel zu einfach um - so im Nachhinein war ich meinen Eltern ja auch gar nicht allzu böse deswegen - aber wenn man es von der anderen Seite betrachtet... ich habe die Stimme und somit den meisten Einfluss meiner Wölfin seit Jahren nicht mehr gehört - seit sie in meinem Fußkettchen versiegelt wurde, als ich fünf Jahre alt war. Ja, irgendwie hatte ich mich schon von ihr abgewöhnt gehabt. Meine Wölfin hat in mir gehaust und mich manchmal an den Rand des Wahnsinns gebracht, aber ansonsten habe ich meistens nur ihre Kräfte genutzt. Nun muss ich mich noch an den Verlust der körperlichen Unterstützung gewöhnen.
Na super. Jetzt fühlte ich mich wie ein Parasit.

Der Unglaube saß noch tief in mir fest, dass meine Eltern das - auch wenn die Idee mit Leo spontan war - hinter meinem Rücken geplant haben. Als hätten sie nicht mit mir reden können, wie die vernüftigen Menschen, wie sie es eigentlich sein sollten es tun? Wäre es nicht selbstverständlicher gewesen, wenn wir unseren Streit um meinen Mate beiseite gelegt hätten und sie mir stattdessen die Fakten auf den Tisch ausgelegt hätten? Dass sie sehen wie sehr ich mich verändere und abstürze? Dass sie den Einfluss meiner Wölfin immer stärker wahrnehmen? Dass sie Angst um mich und wegen mir haben?
Ich bin doch ihre Tochter!

Unser Rudel hatte es geliebt Geheimnisse zu haben und jedem alles zu verheimlichen, aber wir waren nicht das Rudel. Wir waren eine Familie! Sie haben mich erzogen, sie sollten doch wissen, dass ich - sogar wenn ich trotzig und genervt auf sie bin - mich trotzdem auf das Wichtigere konzentriere und es ernst nehme!
Verdammt ich war nicht wütend, ich war einfach nur tiefenttäuscht! Und das traf mich härter ins Herz. Als wenn mir jemand einen abgebrochenen Eiszapfen ins Herz gerammt hätte und ich nun darauf warten würde, dass er schmilzt und der Schmerz vergeht. Doch es schwachte nicht ab, stattdessen kämpfte sich das Gefühl des Alleingelassen in mir hoch. Konnte ich denn noch meinen Eltern vertrauen?

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Where stories live. Discover now