Kapitel 1

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"Du schon wieder."

Ms Carter musterte mich kopfschüttelnd. So wie sie da auf ihrem abgenutzten Bürostuhl saß, hatte ich sie schon etliche Male vorgefunden, den Kopf hinten angelehnt und eine Kaffeetasse mit dem Aufdruck "Schon Ihre Medikamente genommen?" in der Hand.

"Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du willst einfach nur Unterricht schwänzen."

Ich rollte innerlich mit den Augen. So verloren, wie ich da im Türrahmen stand und mir das 2164zigste Taschentuch auf die Nase drückte, war es doch offensichtlich, dass ich auch gerade lieber woanders wäre.

"Es hat vor zehn Minuten angefangen. Ich dachte, diesmal hörts von selbst auf..." Ich bemerkte voller Grauen, dass nun auch dieses Tempo vollgesaugt war. Wohl oder übel musste ich in den verhassten Raum eintreten und ein neues Tuch aus dem Spender nehmen.

Ms Carter beobachtete mich nur weiterhin und machte keinerlei Anstalten, mir zu helfen oder gar aufzustehen. "Hast du schon was Kaltes in den Nacken gelegt? Den Kopf nach hinten gebeugt? Die..."

"Ja, ja und ja!" Gefrustet ließ ich mich auf die kotzgrüne Liege fallen und legte mich auf den Rücken. "Ich würde ja einfach weiter im Unterricht sitzen, aber die Lehrer sind immer so zartbeseitet!"

Die Schulkrankenschwester nahm langsam einen Schluck aus der Tasse. "Ich bin mir ziemlich sicher, sie sorgen sich nur um deine Gesundheit, so wie ich. Das ist jetzt das vierte Mal diese Woche. Und es ist erst Mittwoch."

Da hatte sie Recht.
Ein neuer Tiefpunkt, sogar für mich.

"Ich hab doch auch keine Ahnung, warum gerade mir das passiert. Mir gehts doch gut! Ich bin ein voll funktionstüchtiger, nur leicht mental angegriffener Teenager. Also völlig normal!" Na ja, bis auf diese rote Sintflut ab und zu.

Angefangen hatte alles vor ein paar Wochen, natürlich mitten in einem wichtigen Chemietest.
Auf einmal waren auf dem bislang leider noch schneeweißen Blatt Papier zwei Tropfen frisches Blut gelandet, was unnötig dramatisch war in dem Moment. Diese Tropfen blieben leider nicht die einzigen und so wurde ich umgehend ins Krankenzimmer geschickt, wo ich die Bekanntschaft der wohl unempathischsten Frau der ganzen Schule machte: Ms Karen Carter, angeblich Krankenschwester.

Karen und ich (leider durfte ich sie nicht so nennen, ich hatte extra nachgefragt) wurden schnell beste Freundinnen. Dachte ich zumindest am Anfang.
Aufgrund eines kleinen Nasenblutens nicht am Unterricht teilnehmen zu müssen, war zunächst durchaus komfortabel. Je öfter ich jedoch den Stoff nachmittags nacharbeiten musste und komisch angeguckt wurde, wenn ich nach einer Blut-Session wieder den Klassensaal betrat, desto weniger Spaß machte mir das Ganze. Mittlerweile ist es einfach nur lästig und öde, da meine Gesprächspartnerin nicht gerade die interessanteste Person war.

"Können wir bitte heute nicht über meinen offensichtlichen Defekt reden, sondern stattdessen über was Spannenderes?" schlug ich hoffnungsvoll vor. "Wie gehts ihrer Katze? Sie haben doch eine Katze, oder? Ich meine nur, weil sie da an der Wand ein Bild hängen haben."

Sie schaute mich unbeeindruckt an. "Das ist Brownie. Sie ist letztes Jahr gestorben."

Oh je.
"Haben sie denn sonst noch Tiere? Oder Kinder? Oder irgendwas?"
Das letzte war mir jetzt aus Versehen rausgerutscht.

Ms Carter löste sich aus ihrer Starre und lehnte sich vor, die Ellenbogen auf den Schreibtisch.

"Sue. Ich habe dir ja die letzten Male ein bestimmtes Medikament gegeben gegen dein Nasenbluten. Es kann aber nicht sein, dass das jetzt zur Gewohnheit wird und du in Zukunft mehr Zeit hier verbringst als im Unterricht."

Ich schluckte. Was war denn so schlimm an den Pillen? Die sahen doch eigentlich ziemlich harmlos aus.

"Deswegen muss ich dir gestehen, dass ich mit meinem Latein am Ende bin. Entweder du gehst jetzt mal zum Arzt oder ich muss deine Eltern benachrichtigen."

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