Kapitel 9

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Ich traute meinen Augen nicht.

Am Ende der langen Allee, durch die wir jetzt schon mindestens drei Minuten fuhren, tat sich auf einmal ein gigantisches Gebäude auf.
Je näher wir ihm kamen, desto mehr Giebel und Türmchen ragten durch die Baumkronen.
Der geflegte Rasen rechts und links von uns war makellos.

Ich lehnte mich nach vorne, um einen besseren Blick zu haben. Dabei streckte ich meinen Kopf zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und umklammerte die Lehne vor mir.

Dem Fahrer schien diese plötzliche Nähe ein klein wenig unangenehm zu sein und er rutschte auf seinem Sitz hin und her.

"Was ist das?" flüsterte ich, eher zu mir selbst, als zu ihm.

Er sah über den Sonnenbrillenrand in den Rückspiegel.
"Dein neues Zuhause."

Und mit dieser Verkündigung konnte  ich nun das gewaltige Herrenhaus in seiner ganzen Schönheit sehen.
Wir waren jenseits der Baumkronen angekommen und uns trennten nur noch wenige Meter von dem Monstrum an Architektur.
Villa wäre hier die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen, mit einem kleinen Schloss konnte man es eher vergleichen.

Es hatte mindestens drei Stockwerke und bodenlange Fenster. Der rote Stein der Außenwände fügte sich perfekt in die malerische bewaldete Umgebung ein. An den Seiten war das Haupthaus noch mit etwas niedrigeren Seitenflügel verbunden und erstreckte sich weit in die Breite.
Rechts und links des großen Haupteinganges, zu dem vier Stufen hochführten, waren ordentliche Büsche gepflanzt.

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriffen hatte, dass das Auto bereits zum Stehen gekommen war.

Erfürchtig drückte ich die Tür auf und setzte einen Fuß auf den hellen Sandboden. Jetzt, wo ich direkt vor dem Haus stand, fühlte ich mich noch winziger als sonst.
Meine Körpergröße ließ nämlich leider etwas zu Wünschen übrig. Die kurzen Beine hatte ich schon oft verflucht, wenn in der Schule mal wieder ein Sporttest anstand, und die unausgeprägte Muskulatur sowieso.
Nach Wochen im Krankenhaus hatte sich meine Fitness nicht gerade verbessert.

Das Anwesen strahlte irgendwie eine unheimliche Ruhe aus. Ich konnte es nicht einhundert Prozent beschreiben, aber es erschien mir wie ein Fels in der Brandung.

"Gefällt dir der Anblick?" hörte ich eine Stimme.

Ich senkte meinen Blick ein wenig und erschrak, als ich ein mir bekanntes Gesicht vor den schweren Holztüren des Einganges sah.
Auf dem steinern Treppenaufgang stand doch tatsächlich Dr. Smith, der sympathische Arzt aus dem Krankenhaus.
Was machte der denn hier?

Er schien mir die Verwirrung anzusehen und lachte ein dunkles, angenehmes Lachen.
"Oh je, das muss wohl gerade ziemlich komisch für dich sein. Dein betreuender Arzt in Alltagskleidung?"

Ich runzelte die Stirn, unfähig irgendwas halbwegs Sinnvolles von mir zu geben.

Er gestikulierte entlang seines Körpers und ich registrierte die lockere Karohose und den schlichten senfgelben Rollkragenpullover.
Daraufhin betrachtete er mich aufmerksam.

"Tschuldige für den schlechten Witz, ich dachte wohl, das würde dich vielleicht aus deiner Schockstarre befreien." Dr. Smith ging Schritt für Schritt die Stufen hinunter und vergrub die Hände in den Hosentaschen.

Ich konnte ihn nur weiter anstarren. War er es, der mich adoptiert hatte? Aber warum? Und, vor allem, wieso schon, bevor wir uns jeh begegnet waren? Bei dem Anruf damals in Charlottes Büro hätte doch keiner ahnen können, dass ich schon wenig später in der Notaufnahme landen würde...

"Dr. Smith..." brachte ich heraus "wieso...?"

Er stand jetzt direkt vor mir.
"Ich verrate dir jetzt mal ein Geheimnis, Sue."

Er beugte sich leicht zu mir hinunter. Gleich war der Moment gekommen und ich würde das hier endlich verstehen. All die merkwürdigen Geschehenisse und Begegnungen würden endlich einen Sinn ergeben und ich...

Verschwörerisch wisperte er "Ich heiße gar nicht Dr. Smith."
Und entfernte sich wieder von meinem Ohr.

Ich sah ihn entgeistert an. Das sollte es gewesen sein?!

Er lachte wieder.

"Sue, du bist echt leicht zu verwirren."
Na, vielen Dank auch!

"Aber jetzt mal Spaß beiseite: Was hälts du davon, wenn wir dieses Gespräch drinnen fortsetzen? Hier draußen zieht es ein wenig, findest du nicht?" Ohne zu warten begab sich Mr. Smith, oder wer zur Hölle er auch war, auf den Weg ins Haus und ich folgte ihm unsicher.

Kurz drehte ich mich noch einmal um, als mir siedend heiß meine Taschen einfiel.
Doch der protzige SUV war bereits verschwunden und meine Sachen mit ihm.

"Keine Sorge, Karl kümmert sich um dein Gepäck." Mr. Smith winkte mich erwartungsvoll zu sich und verschwand daraufhin im Gebäude

Karl, so hieß der schweigsame Geselle also.

Ich eilte auf die eindrucksvolle Doppeltür zu und schlüpfte ebenfalls hindurch.

Wenn ich eben schon beeindruckt gewesen war, fiel mir jetzt eindeutig die Kinnlade hinunter. Ich hatte noch nie so vie Reichtum so konzentriert auf eine Eingangshalle gesehen.

Der Boden war aus hochwertigem Mamor, in das verschiedene Ornamente und Bilder eingearbeitet waren, und die Treppen, die rechts und links in einem Knick nach oben führten, waren auf Hochglanz poliert. Deren Geländer bestanden aus massivem dunklen Holz, das generell den Raum dominierte, zusammen mit ausladenden Kronleuchter, der an der Decke hing.
Der Bereich war offen, sodass ich von meinem Standpunkt aus ins erste Stockwerk schauen konnte.
Aber keine Seele weit und breit.

Ich durchquerte die Halle und konnte es nicht lassen, mich dabei einmal um mich selbst zu drehen.
Die großzügig bemessenen Fenster überfluteten den Raum mit Morgensonne und ich fühlte mich beinahe wie in einem Märchen.

"Sue, kommst du?"

"Ja!" erwiderte ich lauter als gewollt und zuckte zusammen, als meine Stimme von den Gemälde behangenen Wänden zurückhallte.

Das Büro, in dem ich nun stand, gehörte anscheinend Mr. Smith und er nahm hinter dem riesigen Schreibtisch Platz.
Mich bat er, gegenüber von ihm zu sitzen, und ich sank in einen monströsen Ledersessel.
Mann, musste der Typ viel Kohle haben...

"Sue, ich möchte dir als aller erstes mal eine Frage stellen: Wieso glaubts du, haben wir dich da aus diesen Kinderheim geholt?"

"Moment mal." Ich hob eine Hand. "Sie haben mir immer noch nicht ihren richtigen Namen verraten. Und Menschen, die ihre wahre Identität verbergen, sind mir irgendwie ein wenig suspekt." Demonstrativ lehnte ich mich zurück.

"Natürlich." Er lächelte. "Das ist ja auch mehr als verständlich.
Ich bin Professor Argus Kingsley und nein, dieses Anwesen gehört nicht mir allein. Um das mal direkt aus dem Weg zu Räumen. Ich bin ja schließlich kein Millionär oder Ähnliches!"

Schade, Millionärstocher klang irgendwie verlockend.

"Ich habe deine Ankunft extra so geplant, dass noch keiner der anderen hier unterwegs ist. So kannst du dich in Ruhe umsehen."

Die anderen? Wer lebte denn noch hier in diesem merkwürdigen Haus?

"Du hast bestimmt einige Fragen. Aber ich fange jetzt mal von vorne an."

Das tat er und ich hörte zu.

liquidWhere stories live. Discover now