Kapitel 4

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Diese Nacht schlief ich besonders unruhig, wenn man es überhaupt Schlafen nennen konnte.

Gerade, wenn ich für einen kurzen Moment weggedöst war, holte mich die Erinnerung an das leise Brummen zurück in die Realität.
Irgendwann bildete ich mir sogar ein, ein fernes Echo davon zu hören.

Ich musste langsam, aber sicher, wahnsinnig werden.
Oder einen Tinnitus entwickeln.

Da! Schon wieder!

Ich riss die Augen auf und schnappte mein Handy. Wieder nichts.
Nur der leere Lockscreen, den ich letztens erst neu eingestellt hatte:
Ein Tropfen, der auf eine glatte Wasseroberfläche fällt.
Damals hatte ich das Bild für enorm tiefgründig gehalten, mittlerweile war es genauso langweilig, wie die Vorgänger-Hintergründe.

Es war schon merkwürdig, wie schnell man sich an einem Motiv satt sah, so bedeutend es auch zu sein schien.

Müde ließ ich meine Arm mit dem Handy neben meinen Kopf fallen.

Vielleicht sollte ich es einfach ausschalten. Bevor es mich die ganze Nacht wach hielt.

Doch plötzlich vibrierte es in meiner Hand. Sofort ließ ich es los und richtete mich auf.

Es vibrierte tatsächlich! Ich hatte mir das Geräusch also doch nicht eingebildet.
Merkwürdig war allerdings, dass auf dem Display nicht die normale Anruf-Schaltfläche aufleuchtete, sondern nur ein einziger weißer Button, den ich anscheinend nach rechts wischen sollte.

Keine Nummer.
Kein Standort.

Okay, das war jetzt doch ein wenig beängstigend.

Vielleicht sollte ich einfach nicht rangehen...

Allerdings begannen nun auch einige der anderen Mädchen in meinem Zimmer, sich zu regen. Dieses Brummen konnten sie also auch hören und es war nur eine Frage der Zeit, wann die Erste aufwachen würde.

Ich wurde panisch.

Okay, versuchte ich mich zu beruhigen, alles halb so wild. Ich drück den Anruf einfach weg.

Aber scheinbar waren sämtliche sonstigen Funktionen meines Handys lahmgelegt. So ein Mist!

Ich steckte es unter mein Kissen, jedoch minderte das nicht unbedingt die Intensität des Summens.

Ich hatte nur eine Möglichkeit, um nicht das ganze Zimmer aufzuwecken:
Es zu verlassen.

Durch die Haustür war unmöglich, denn ich müsste erst durch den verräterischen Gang und dann direkt am Schlafzimmer der Heimeltern vorbei. Also blieb mir nur der Weg durchs Fenster.

Ich hatte im Laufe der Zeit hier im Kinderheim schon öfters mit dem Gedanken gespielt, mich einfach aufs Dach zu flüchten, und einmal hatte ich mich sogar wirklich getraut.

Dann musste mich leider die Feuerwehr bergen.

Aber hoch hatte ich es immerhin geschafft und einmal dort angekommen, war die Aussicht echt spektakulär gewesen.

Das Handy in der Hosentasche, kletterte ich auf den Schreibtisch vorm Fenster, drehte langsam den Griff nach oben, und zog.
Zuerst klemmte es ein wenig und ich verfluchte den sanierungsbedürftigen Zustand des Hauses.
Dann gab das Fenster jedoch nach und ich spürte einen kalten Windzug.
Ich hätte eventuell eine Jacke mitnehmen sollen, aber jetzt war es zu spät.

Ich quetschte mich durch den Rahmen und stellte mich mit beiden Füßen auf den äußeren Fenstersims. Dabei konnte ich nur beten, dass der dünne Stein mein Gewicht aushalten würde.
Unser Zimmer war zwar nur im ersten Stock, allerdings war ein Fall aus drei Metern Höhe auch nicht gerade angenehm.

Rechts von mir war die klapprige Feuerleiter, die es nun hochzuklettern galt.

Ich schwang mich, eher wenig grazil, auf die erste Sprosse und arbeitete mich Schritt für Schritt nach oben.
Dabei fühlte ich mich fast schon wie ein Spion oder ein Geheimagent. Immerhin war es tiefste Nacht und ich hatte einen mysteriösen Anruf entgegenzunehmen.

In meiner Hosentasche vibrierte das Handy immer weiter.

Weil sich die obere Hälfte der Leiter nicht mehr so ganz robust anfühlte, war ich schließlich zutiefst erleichtert, auf dem Dach angekommen zu sein. Hier gab es ein bisschen vertrauenserweckendere Stufen, die es mir einfacher machten, zum First zu gelangen.

Am meinem Ziel angekommen, setzte ich mich auf die mehr oder weniger komfortablen Ziegel und lehnte mich mit dem Rücken an den großen Schornstein.

Erst nach einem kurzen Check, ob ich denn auch wirklich sicher saß, erlaubte ich es mir, tief durchzuatmen. Geschafft!

Aber meine körperliche Fitness ließ echt zu Wünschen übrig. Auf meiner Stirn stand der Schweiß und meine Beine waren ganz verkrampft.

Mit zittrigen Fingern zog ich das summende Handy aus der Tasche.
Immer noch der gleiche, seltsame Bildschirm.

Nach kurzer Überlegung, mein Daumen über dem Button schwebend, zog ich ihn schließlich übers Display.

Sofort hielt ich mir das Smartphone ans Ohr. "Hallo?"

Alles, was ich hörte, war ein statisches
Rauschen.

"Hallo? Ist da jemand?" Ich zog meine Augenbrauen zusammen. War das etwa nur ein Scherzanruf? Oder irgendeine Betrügernummer?

Das Rauschen war durch den qualitativ dürftigen Lautsprecher ohrenbetäubend. Ich hielt das Handy ein wenig weiter weg.

"Wer ist da?" versuchte ich es nochmal. So schnell wollte ich nicht aufgeben.

Ich wartete wieder. Mittlerweile war ich kurz davor, einfach wieder aufzulegen.

Moment, das ging ja gar nicht. Jetzt war vom Display sogar der Button von vorhin verschwunden und der Bildschirm selbst komplett schwarz.
Na toll, das war's also mit meinem Handy. Wahrscheinlich hatte ich mir irgendwie einen hartnäckigen Virus eingefangen...

Je länger ich mir jedoch das Handy ans Ohr hielt, desto lauter wurde das Störsignal. Und desto mehr schmerzte mein Kopf. Es hatte keinen Sinn.

Wer auch immer da gerade am anderen Ende der Leitung saß, hatte eindeutig nicht Absicht, mit mir zu kommunizieren.

Vielleicht sollte ich das Handy einfach fallen lassen, war ja eh nicht mehr zu gebrauchen.

Doch mein Arm war wie versteinert und das Handy klebte förmlich an meinem Ohr.

Das Rauschen irritierte mein Gehirn so sehr, dass es sich auf mein Sichtfeld auswirkte. An dem sonst ruhigen, klaren Nachthimmel erschienen nun kleine weiße Blitze.

Der Horizont wölbte sich nach unten und wich einer feinen, zuckenden Linie, die das Bild in zwei Hälften teilte.

Ich konnte nichts gegen diese Sinnesverzerrungen tun, mein Körper wurde immer schlaffer und mein anderer Arm hing unkontrollierbar hinunter.

Da, wo eben noch die Skyline der Stadt gewesen war, wurde langsam alles weiß, während unterhalb der Linie die Bäume und Dächer der Wohngegend zu einer schwarzen Einheit verschwammen.

Das Rauschen vibrierte nun durch meinen ganzen Körper. Es ging nun nicht mehr von dem Smartphone in meiner Hand aus, sondern von einem Punkt direkt zwischen meinen Augen, die sich auch nicht schließen ließen.

Ich sah die Linie in der Ferne immer schräger werden.
Mit ihr verschob sich auch das Schwarz und Weiß.

Machtlos gab ich mich hin und sah auf einmal die Silhouette einer grell leuchtenden Gestalt vor mir.
Das helle, grüne Licht brannte sich in meine Netzhaut ein, während auch diese Form mit dem Rest meines Sichtfeldes kippte.

Erst kurz vor dem Aufprall bemerkte ich, dass nicht mein Umfeld fiel, sondern ich.

liquidWhere stories live. Discover now