Kapitel 6

17 11 22
                                    

Die Ruhe der Nacht wurde von einem schmerzerfüllten Schrei zerrissen.

Ich konnte es in der Dunkelheit nicht genau erkennen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er von meiner Zimmergenossin kam.

Jeden Moment rechnete ich mit einem Großangebot an medizinischem Personal. Dieses andauernde Geschrei musste auf der ganzen Station, wenn nicht sogar dem ganzen Gebäude, zu hören sein.

Doch auch nach ein paar Minuten tat sich nichts. Das durfte doch nicht wahr sein.
Schön und gut, wenn sich hier im Regelbetrieb niemand um einen kümmerte, aber bei akuter Gefahr musste doch schnell gehandelt werden.

Da ich meine Stimme immer noch nicht nutzen konnte, musste ich zu drastischeren Maßnahmen greifen.
Mit all meiner Willenskraft bewegte ich meine mittlerweile kribbelnden Finger in Richtung Notknopf.
Er war direkt am Bettrahmen angebracht, ich musste nur noch ein paar Zentimeter weiter...

Da! Ich spürte den kleinen Knubbel unter meinem Zeigefinger und drückte ihn herunter.
Sofort fing die Notleuchte an der Tür an rot zu blinken und wenige Momente später stand eine Krankenschwester im Zimmer.

"Miss Robinson, ist alles is Ordnung? Geht es ihnen nicht gut, haben sie..."

War sie etwa taub? Da schrie sich ein Mädchen neben mir die Seele aus dem Leib und die Pflegerin fragte erstmal mich, wie es mir ging?

Mit meinem gerade erst aufgetauten Finger deutete ich schwächlich auf das Bett neben mir.

"Ist es Ms Evans? Sie liegt doch immer noch im Koma... und ihre Vitalwerte sind auch in Ordnung."

Wollte sie mich veräppeln? Das konnte doch nicht war sein.

Etwas energischer zeigte ich auf den offensichtlichen Notfall und krächzte ein "rei" heraus, was die Krankenschwester wohl zum Glück richtig interpretierte.

"Schrei? Hat sie etwa geschrien? Also ich hab nichts gehört und das Schwesternzimmer ist direkt gegenüber..."

Ich ließ nicht locker, auch weil ich den Lärm echt nicht mehr ertragen konnte.

Endlich beugte sich die Nachtschwester über das Mädchen und legte ihr die Hand auf die Stirn.

Verblüfft sah sie auf. "Du hast Recht! Sie hat offensichtlich Fieber... und ihr Puls ist auch erhöht." Sie studierte stirnrunzelnd die Monitore. "Anscheinend sind die Überwachungsgeräte ausgefallen, oder funktionieren nicht richtig."

Sie stürmte aus dem Raum und kam wenige Sekunden später mit einem Arzt im Gepäck wieder. Doch es war nicht der Arzt von vorhin, so viel konnte ich erkennen.

Hektisch flüsterten sie sich Anweisungen zu und schoben in Windeseile meine Zimmerkameradin mitsamt ihres Bettes aus der Tür. Dort wartete schon ein weiter Pfleger und half mit, das Bett davonzuschieben.

Die Tür fiel zu und ich war wieder allein.

Von einer plötzlichen Müdigkeit und Erschöpfung übermannt, hatte ich nicht mal mehr Zeit, mir Gedanken zu machen, was zu Hölle da gerade passiert war, sondern ich rutschte schnell in einen unruhigen, aber tiefen Schlaf.

---

Am nächsten Morgen war das Mädchen wieder an Ort und Stelle.
Merkwürdig.

Hatte ich mir schon wieder alles nur eingebildet?

Wenigstens hatte ich endlich mal eine Visite vom Doktor und diesmal war es sogar der nette Typ von gestern.

"Weißt du was, Sue? Du hast heute Nacht ein Leben gerettet."
Er deutete mit dem Kopf auf meine Zimmerkameradin.
"Genauer gesagt, Annas. Sie hatte eine plötzliche Hirnblutung und hätte daran sterben können."

liquidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt