Kapitel 8

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"Hi" grüßte ich den Mann auf dem Fahrersitz.

Doch dieser schwieg nur und drehte den Schlüssel in der Zündung.

Wurden in solchen Karren und mit solchen Fahrern nicht eigentlich nur Leute entführt? Gerade fühlte es sich nämlich verdammt so an, als ob ich das nächste Opfer sein sollte.

Als der Motor ansprang und der stumme Mann den Vorwärtsgang einlegte, war ich kurz davor, wieder rauszuspringen.
Das konnte ja nichts Gutes bedeuten.

Aber ich versuchte mich unter Kontrolle zu bekommen. Charlotte würde mich nicht einfach so einem Wildfremden oder potenziellen Serienkiller mitgeben, oder?
Sie mochte mich zwar nicht besonders, aber so wenig dann auch wieder nicht.

Statt zu fliehen, entschied ich mich für eine andere Taktik: Konfrontation.

"Hey, sie! Ich rede mit ihnen."

Wir verließen langsam die Nebenstraße des Kinderheims und bogen auf die Hauptstraße.

"Wer sind sie? Und wo bringen sie mich hin?"

Vielleicht sollte ich ihn einfach so lange mit Fragen bombardieren, bis er nachgab.

"Sie wissen schon, dass wir jetzt die nächsten Stunden zusammen in diesem Auto sitzen werden, oder? Das ist eine Menge Zeit für eine Menge Fragen..."

Er sah immer noch stur geradeaus.

"Zum Beispiel, wieso sie einen Anzug anhaben. Sind sie ein Geheimagent und sammeln Rekruten? Oder doch ein Privatdetektiv, den jemand damit beauftragt hat, mich zu finden? Vielleicht sind sie auch ein Pädophiler, der..."

"Stopp" unterbrach mich der Fahrer. "Hör sofort auf damit. Ich bin garantiert kein Pädophiler und ich verbitte mir..."

"Das ist tatsächlich genau das, was ein Pädophiler sagen würde." Ich verschränkte die Arme. "Wie können sie mir beweisen, dass sie nicht vorhaben, mich an irgendjemanden zu verkaufen oder Schlimmeres?"

Er schwieg für einen kurzen Moment. "Mit dem Ersten lagst du gar nicht so falsch."

Was hatte ich nochmal als Erstes gesagt? Detektiv oder Geheimagent?

"Wie meinen sie das? Wer hat mich adoptiert? Und was ist ihre Rolle in dem Ganzen?"

"Ich", der Mann setzte eine Sonnenbrille trotz Dämmerung auf, "bin nur der Fahrer."

Und damit eröffnete er eine neue Runde des Schweigens.
Ich verfolgte die Route auf dem eingebauten Navi und wunderte mich gleichzeitig, wieso wir ausschließlich Landstraßen und Feldwege nutzten. Auch nicht gerade vertrauenserweckend.

Das Navi zeigte eine Ankunftszeit von 5:33 Uhr an. Das war ja wirklich eine verdammt lange Strecke.

Ich brach die Stille wieder.
"Wir bleiben aber schon in Großbritannien, oder?"

"Du wirst es sehen" war die knappe Antwort. Na toll.

Aus lauter Langeweile begann ich, die Innenausstattung des Wagens zu begutachten. Zu meiner Verwunderung gab es hier viele Features, die auf den ersten Blick nicht sichtbar waren. Zum Beispiel konnte ich den mittleren Sitz umklappen und in eine Minibar umfunktionieren. Die kleine Kühlkiste war bestückt mit teurem Sprudelwasser und Limo. Obendrüber gab es ein Fach mit Plastikgläsern.

Außerdem fand ich ein verstecktes Fach in der Tür mit kabellosen Kopfhörern. Traurig hielt ich sie hoch. Hätte ich doch jetzt nur mein Handy...

"Drück mal den Knopf an der rechten Seite des Sitzes vor dir" hörte ich von vorne.

Nichtsahnend gehorchte ich.
Auf einmal löste sich ein Stück aus der Lehne und trat einen Zentimeter hervor. Wenig später leuchtete ein gestochen scharfer Bildschirm auf.

Mit großen Augen tippte ich auf dem Display rum und landete schließlich auf einer gigantischen Streaming-Plattform.

Ein leises "Woah" entwischte mir und ich könnte schwören, dass dem Fahrer ein wenig die Mundwinkel zuckten.

Überfordert mit dem riesigen Angebot an Filmen und Serien hatte ich keinen Plan, was ich als erstes schauen sollte.
Im Heim hatte es zwar einen Fernseher gegeben, aber der war uralt und empfing nur die Standard-Kanäle.
Die Welt des Streamens war daher komplettes Neuland für mich.

Nach einiger Zeit entdeckte ich eine Show, die ungeklärte Naturphänomene erforschte, und war sofort gefesselt.

Wieso dachte der Mensch nur, er wüsste mittlerweile alles, was auf dieser Welt oder, besser gesagt, in diesem Universum vor sich ging?
Immer, wenn eine Frage geklärt zu sein schien, taten sich zehn weitere auf.

Da nach dem Ende einer Folge automatisch die nächste abgespielt wurde, verbrachte ich Stunden damit, auf den abgedunkelten Bildschirm zu schauen. Die Kopfhörer trug ich auch dabei und durch die Noise-Cancelling-Funtion konnte ich alles andere um mich herum ausblenden.

Wahrscheinlich war der Fahrer auch mal ganz froh, seine Ruhe zu haben.

In den weichen Sitzen und mit der monotonen Stimme des Sprechers auf den Ohren wurde ich immer schläfriger, bis ich den Kopf schließlich am Fenstet anlehnte und wegdämmerte.

---

Die enorme Höhenänderung drückte auf meine Trommelfelder und ich wachte auf.

Mr
Ich-trage-Sonnenbrille-auch-bei-Nacht steuerte das Auto eine kurvige und vor allem sehr steile Straße nach oben.

Dem fahlen Licht zu urteilen, musste es bereits Morgen sein, und das bedeutete, wir waren fast am Ziel angekommen.

Ich lugte nach vorne und aufs Navi, aber anscheinend hatte es längst das GPS-Signal verloren.

Ich zog mir die Kopfhörer von den Ohren und sah aus dem Fenster.

Wow, bei dem Anblick rutschte mir echt das Herz in die Hose.
Nichts als weites Grün und raue Berge. Im Zentrum des Tales lag ein großer See, auf dem sich die Morgensonne spiegelte.
Und auf der einzigen Straße weit und breit befanden sich wir.

"Wo sind wir?" fragte ich wie hypnotisiert.

Der Mann würdigte die Landschaft keines Blickes.
"Das weiß niemand so genau."

Meine Nase klebte förmlich an der Scheibe und ich ließ die Weite auf mich wirken.
Ich war zwar ab und zu mit der Schule auf einer Exkursion gewesen, aber ansonsten hatte ich kaum etwas von der Welt gesehen.
Selbst, wenn das hier immer noch England sein sollte, fühlte es sich wie in einem anderen Universum an.

"Wann sind wir da?" versuchte ich erneut mein Glück.

Ich hatte das Gefühl, der Fahrer beäugte mich über den Rückspiegel.
"In ungefähr zehn Minuten."

Oh Gott.

liquidWhere stories live. Discover now