Kapitel 2

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Schon beim Eintreten in das St. Joseph's Heim für verwaiste Kinder und Jugendliche spürte ich die aufgeladene Stimmung, die gleich in eine ausgewachsenden Konfrontation ausarten sollte.

"Sue Meredith Robinson!" Und da war sie schon. Nanny McPhee höchstpersönlich.
Unsere Hausmutter Charlotte baute sich vor mir auf und strahlte trotz ihres etwas kleinen, plumpen Körperbaus eine enorme Authorität aus. So zuckte selbst der widerspänstigste, schwererziehbare Schützling vor ihrer durchdringenden Stimme zusammen.

"Die Schule hat mich eben angerufen. Angeblich wärst du gerade beim Arzt aufgrund eines chronischen Nasenblutens?" Sie hob eine Augenbraue. "Nasenbluten? Ist dir nichts Originelleres eingefallen?"

Von wegen Arzt oder Anruf...
Ms Carter war mir eindeutig in den Rücken gefallen. Warum nicht gleich beides, wenn man den Patienten loswerden wollte.

"Sue? Ich rede mit dir! Ich nehme mal an, du warst nicht gerade bei Doctor Sullivan? So schnell kommt keiner bei ihm dran. Zwei Stunden Wartezeit sind da eher realistisch. Also: Wo warst du?"

Ich verschränkte nur die Arme.
Diskutieren mit ihr hatte eh keinen Sinn.

"Gut." Charlotte zeigte sich ebenfalls abwehrend. "Dann lässt du mir keine Wahl." Sie streckte die Hand aus.

Na toll. Jetzt wollte sie mich bestrafen, indem sie mein Handy einkassierte. Als ob sie mich damit treffen würde. Als ob ich jeh mit irgendjemandem kommunizieren oder aktiv in den sozialen Netzwerken sein würde.

Aber ich musste es so aussehen lassen, als ob Charlotte mit dieser Disziplinärmaßnahme voll ins Schwarze getroffen hatte. Ansonsten würde sie mich zu weiteren Strafen verdonnern.
"Echt jetzt? Nicht mein Handy, okay? Nimm meine Niere, meine Leber oder gar mein Blinddarm, den brauch ich sowieso nicht!" Eventuell hatte ich etwas zu dick aufgetragen.

Doch Charlotte hatte keinen Nerv, mit mir zu verhandeln. Ich hatte die erwartete Reaktion gezeigt und galt jetzt offensichtlich als ausreichend bestraft.

Nach einem theatralischen Seufzer händigte ich ihr mein Smartphone aus und verschwand ohne Weiteres ins obere Stockwerk.

Kurz streckte ich noch meinen Kopf zurück. Jeder normale Jugendliche würde nicht ohne das obligatorische "Wann krieg ich's denn wieder?" auskommen.

Auch das war genau das, was Charlotte hören wollte.

"Wenn du zur Vernunft kommst und mir den Grund für dein Verhalten nennen kannst."

Perfekt, also nie.
Ich hatte doch selbst keine Ahnung, was momentan mit mir los war.
Adieu, Handy, für das ich monatelang gespart hatte!

Müde schmiss ich mich auf mein Bett.
Zum Glück waren alle anderen gerade in der Schule und ich hatte ein bisschen Zeit für mich allein.
Selten, in einem Gruppenzimmer mit fünf Betten. Vor allem, wenn in diesen Betten 7 bis 13-Jährige schliefen.

Da fühlte man sich schnell fehl am Platz, wenn man nicht 24/7 über Jungs redete und sich gegenseitig Zöpfchen flechtete. Ich weiß nicht, was die anderen Mädchen über mich denken mussten, so als einziges älteres Waisenkind. Wer wollte schon ein fast erwachsenes Pflege- oder gar Adoptivkind haben, das man nicht mehr nach seinen eigenen Vorstellungen formen konnte?

Meistens saß ich dann einfach hier auf meinem Bett und schirmte mich von all dem lauten Gezeter ab. Mit meinen Kopfhörern und Bach auf den Ohren ließ sich das alles schon besser ertragen.

Oh Mist. Daran hatte ich gar nicht gedacht... Ohne Handy konnte ich ja gar keine Musik hören. Wie sollte ich denn jetzt das alltägliche Chaos im Heim überleben?

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