Kapitel 22

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Die nächsten Tage verliefen erstaunlich unspektakulär, wofür ich tatsächlich unendlich dankbar war. Gleichzeitig schien die Zeit aber auch an mir vorbeizurasen.

Jeden Morgen verbrachte ich gezwungenermaßen im Speisesaal und schaffte es erstaunlich gut, Lilith und ihren Minions - so hatte ich die zwei Jungs getauft, die ihr aus einem unerfindlichen Grund rund um die Uhr hinterherzulaufen schienen - aus dem Weg zu gehen. Vielleicht hatten sie auch einfach das Interesse an mir verloren und bemerkt, dass ich absolut keine Gefahr für sie und ihr seltsames Geheimnis darstellte. Sollten sie sich doch nachts ihre Gehirne wegpusten, mir doch egal. Ich hatte andere Probleme...

Zum Beispiel Professor Kingsleys Anforderungen gerecht zu werden. Mindestens drei Stunden am Tag quälte er mich mit Übungen, die mein Bewusstsein erweitern sollten. Wenn man mich fragte, hätte ich ebenso gut auch einfach die Minions fragen können - die hatten bestimmt die richtigen Mittel dafür....

Aber nein, ich musste mich mal wieder in einen ungemütlichen Schneidersitz vor den Professor setzen und summen. So lange, bis ich genau die Frequenz traf, die er mir mit seinem kleinen Lautsprecher vorspielte. Das war tatsächlich schwerer als es sich anhörte und ich bemerkte abermals, dass ich absolut kein Gehör für die richtigen Töne hatte.

"Alle Geräusche breiten sich in Wellen im Raum aus" erklärte mir mein neuer Privatlehrer immer wieder. "Die 'normalen' Töne sind Wellen, die jeder gewöhnliche Mensch wahrnehmen kann. Du kannst aber als Sensible Frequenzen hören, sehen oder fühlen, die das menschliche Ohr eigentlich nicht verarbeiten kann, weil sie unvorstellbar tief oder hoch sind. Aber das gilt, wie schon gesagt, nicht nur für dein Gehör. Wenn du Televisionistin sein solltest, kannst du stattdessen Bilder sehen, die in den Köpfen anderer Personen entstanden sind und jetzt sozusagen in dieser Ebene 'herumschwirren'." Er lachte wie so oft über seine eigene komische Wortwahl.
"Für den seltenen Fall aber, dass dein Gehirn Schwingungen von Festkörpern spüren sollte, wirst du dich auf die Telekinese-Ebene spezialisieren können. Und ich vermute mal, dass du weißt, was das bedeutet..." Er hob erwartungsvoll eine Augenbraue an.

"Dinge allein durch meinen Willen bewegen zu können" gab ich leise wieder, ungläubig, dass ich das Potenzial dazu haben könnte.

"Hundert Punkte für Sue Robinson!" rief Kingsley auf einmal laut und ich zuckte zusammen. "Aber nicht doch! Warum bist du denn immer so schreckhaft?"

Vielleicht, weil sie regelmäßig absichtlich meine Sinne anregen und ich mich deshalb so fühle, als lägen sämtliche meiner Nervenkanäle offen auf der Haut...

"Ich hab in letzter Zeit nicht so gut geschlafen" antwortete ich nur und rieb mir die empfindliche Nase, die seit Tagen durchgehend juckte. Allerdings hatte ich immerhin seit der ersten Meditation nicht einmal Nasenbluten gehabt. Vielleicht schien sich mein Körper mit der Zeit an die geistige Belastung zu gewöhnen... Dann hatte das hier wenigstens eine gute Sache.
"Jedes Mal, wenn ich kurz davor bin einzunicken, erinnere ich mich an die Sache während der ersten Meditation... Sie wissen schon, dass ich beinahe nicht mehr daraus aufgewacht wäre. Und die Dunkelheit beim Schlafen ist der in konnektiven Mentalität eben nicht so unähnlich..."

"Das war tatsächlich eher ungewöhnlich..." Der Professor legte seine Fingerspitzen aufeinander. "Normalerweise müssen meine Schüler lange trainieren, um sich für längere Zeit in diesem Zustand zu halten. Viele lassen sich leider schnell ablenken und fahren unkontrolliert in den Körper zurück..."

Ich rutschte unwohl in meinem Stuhl hin und her.
Warum hatte ich mich damals nur so wohl gefühlt?

Zu wohl.

"Na ja, eigentlich ist das ja etwas Positives. Immerhin können wir uns nun diesen mühsamen Schritt in deiner Ausbildung sparen." Der Schulleiter lachte aufmuntern und ich grinste schief.
"Das heißt, du bist bald bereit, deine Fähigkeiten zu entdecken. Welcher Ebene gehörst du wohl an?"
Er sah mir eindringlich in die Augen.
"Was denkst du?"

Oh je.
Ich hatte von Anfang an vor genau dieser Frage Angst gehabt.
Woher sollte ich denn wissen, zu was mein seltsames Gehirn im Stande war?

Er schien mir meine Überforderung anzusehen. "Na ja, es bleibt uns ja immer noch Zeit, das herauszufinden." Er zwinkerte.

Ich wusste bereits, was mich unausweichlich in einigen Monaten erwarten würde.

Für jeden neuen Schüler der Akademie, der sich noch nicht spezialisiert hatte, war es Pflicht, am Ende seines ersten Schuljahres einen Eignungstest abzulegen, bei dem sich entscheiden sollte, welche Art von Sensibilität für sein Gehirn vorprogrammiert war. Ich hatte zwar schon so einiges Übersinnliches erlebt, konnte mich selbst jedoch noch kaum einer Richtung zuordnen...

Ich wusste ebenfalls nicht, wie genau diese Prüfung aussehen würde, und bei dem Gedanken daran wurde mir kotzübel.

"Was hältst du davon, morgen zusammen mit den Anderen zu meditieren?" schlug der Professor vor. "Die Basics kennst du ja jetzt. Und danach kommst du wieder zu mir und wir versuchen uns mal an etwas Telepathie?"

"Okay..." erwiderte ich hilflos und mein Herz schlug unregelmäßig schneller.

Oh Gott.

Auf dem Weg zur Tür drehte ich mich noch einmal um.

"Was denken sie eigentlich?"

Der Professor schaute überrascht auf. "Was meinst du?"

Ich atmete tief durch, die Augenbrauen leicht zusammen gezogen. "Wo gehöre ich hin?"

Er schien sofort zu verstehen, was ich mit meiner Frage meinte.
"Na ja, das ist am Anfang nie so ganz eindeutig... Aber wie dürfen nicht vergessen, dass du damals im Krankenhaus die Hilfeschreie eines Mädchens im Koma gehört hast." Er warf mir einen vielsagenden Blick zu.

"Telepathie?" versuchte ich, unsicher, ob ich die Antwort überhaupt wissen wollte.

Der Professor zuckte nur mit den Schultern und vertiefte seinen Blick wieder in seine Unterlagen.

Unverrichteter Dinge verließ ich den Raum und ärgerte mich darüber, dass mein Lehrer in so vielen Dingen so unglaublich un-lehrreich war...

Ich stapfte zum Aufzug und ließ mich in das unterste Stockwerk transportieren, wo sich wie immer einige Schüler versammelt hatten und sich ungewohnt nah beieinander unterhielten.

Die transparenten Scheiben des Aufzugs ließen mich schon früh einen Blick auf ihre verängstigten Gesichter erhaschen und ein unwohles Gefühl breitete sich in mir aus.

Für einen kurzen Moment überlegte ich, einfach wieder auf den Knopf zu drücken und zurück nach oben zu fahren, aber da öffneten sich auch schon die Türen.

Die eben noch hitzigen Gespräche verstummten.

Und alle starrten mich an.

liquidWhere stories live. Discover now