Kapitel 1 | Weisse Lilien

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Wie in Trance starre ich auf den Zettel, welcher auf dem schwarzen Koffer vor der Tür liegt. Meine Augen huschen immer wieder darüber, doch die Wörter und Buchstaben scheinen sie nicht zu verstehen. Das muss wohl ein Scherz sein! Schnaufend vor Wut trete ich gegen die Tür, als ich bemerke, dass sie nicht geschlossen ist. Kurz macht mein Herz einen Hüpfer, als sie aufschwingt und mir Einblick in den dunklen Gang gibt. Ich zögere, bevor mein Blick wieder auf den Zettel fällt. 

Du musst ausziehen.

Eindeutig ihre Handschrift. Ja, wo ist sie denn bloss? Ausgeflogen? Mit Juliet? Ich schiebe den Koffer, in welchen sie wahrscheinlich all meine Besitztümer gepackt hat, ein Stück zur Seite, damit er mir nicht im Weg steht und betrete die Wohnung, welche ich heute Morgen noch mein Zuhause nennen konnte. Ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus, ein unangenehmes Ziehen und Kribbeln im Bauch. Meine Hand wandert zum Lichtschalter neben der Garderobe. Als die Lampe den Gang erhellt, bleibt mein Herz stehen. 

Was ist denn hier passiert? Blätter, die wild verstreut auf dem Boden liegen, die herausgerissenen Schubladen der Kommode, die umgestossene Vase. Reinstes Chaos. Das sieht meiner Alten nicht ähnlich. Nein, ganz und gar nicht. Ich würde sogar wagen zu behaupten, sie habe eine Zwangsstörung, was Ordnung angeht. So weit lehne ich mich aus dem Fenster. 

Fenster. Es ist offen, das am anderen Ende der Gang. Ich stürze dorthin. Der kühle Luftzug erfasst mich und lässt mich erschaudern. Warum steht es offen, wenn die beiden nicht da sind? So scheint es zumindest. Ich schaue mich weiterhin um. Das Wohnzimmer zu meiner Rechten ist genauso übel zugerichtet. Die Polster der Sofas alle aufgeschlitzt, die Stehlampe umgeworfen. Der Fernseher ist noch intakt, aber die Pflanzentöpfe, welche auf der Fensterbank stehen, wurden alle runtergeschmissen und liegen mit der Erde und Pflanzen in Scherben auf dem Boden. 

Dieses Chaos, es würde meine Mutter rasend machen. Aber irgendetwas stört mich. Nicht die Unordnung an sich, sondern wie sie angeordnet ist. Dass es wohl ein Einbruch ist, kann man wohl kaum bestreiten, aber ich frage mich, warum? Warum diese schreckliche Unordnung? Wer macht sich die Mühe, in eine Wohnung im 23. Stock einzubrechen? Und so wie es ausschaut, scheint der Einbrecher keinen blassen Schimmer gehabt haben, wo sich sein gesuchtes Objekt befindet. Er hat sich nicht einmal Mühe gemacht, es nicht nach einem Einbruch aussehen zu lassen. Die anderen Zimmer sehen genauso aus. Meines eingeschlossen. 

Doch dieses wirkt so seltsam leer, als würde etwas fehlen. Nicht nur der Inhalt der Kleiderschränke, der befindet sich wahrscheinlich im Koffer, sondern allgemein. Die Poster meiner Lieblingsbands an der Wand sind heruntergerissen worden, die Bücher aus den Regalen. Meine E-Gitarre steht fast wie unberührt im Ständer, meine Notizen liegen überall auf dem Boden verteilt. 

Ich seufze. Wenn ich herausfinden wollte, was überhaupt fehlt, wäre ich morgen noch da. Aber das ist doch nicht mein Problem. Das hier kann ich wohl nicht mehr mein Zuhause nennen. Eigentlich wollte ich es nie Zuhause nennen. Nein, es kann mir sowas von am Arsch vorbeigehen, was meine Mutter denkt, wenn sie zurückkommt. Und wer hier eingebrochen ist. Es ist ja nicht mein Schmuck, der geklaut werden kann. 

Einige Augenblicke sehe ich mich in meinem Zimmer um. Brauche ich noch was? Mein Blick bleibt bei meiner Gitarre stehen. Ich hänge an ihr, wirklich. Aber die letzten paar Wochen bin ich kaum zum Üben gekommen. Trotzdem schnappe ich sie mir, packe sie in die Tasche und hieve diese über die Schulter. Dafür habe ich über 1000 Pfund ausgegeben, es wäre eine Schande, würde ich sie zurücklassen. 

Vor der Haustür bleibe ich stehen. Seufzend stütze ich mich mit den Händen an der Wand ab, schliesse die Augen und versuche meine Gedanken auf Vordermann zu bringen. Soll ich einfach warten, bis sie zurückkommt? Ich könnte schwören, dass sie jetzt Urlaub machen, schliesslich hat Juliet schon seit heute Ferien, im Gegensatz zu mir. Heute war mein letzter Schultag vor den Feierlichkeiten. Jetzt hat sie mich einfach hier sitzenlassen, eine Woche vor Weihnachten. Was für eine Frechheit. Aber eigentlich sollte ich nicht traurig darüber sein. Im Gegenteil, ich sollte froh darum sein, endlich ihren Klauen entkommen zu sein. Aber was soll ich nun tun? Wohin mit mir? 

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now