Kapitel 21 | Fliehen oder leiden

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Gilly stellt mir eine dampfende Tasse Kamillentee hin und setzt sich gegenüber von mir auf den Stuhl. In ihrem Wintergarten ist es erstaunlich warm für die Jahreszeit, aber natürlich habe ich es mir trotzdem nicht nehmen lassen, mich in eine Decke einzuwickeln. Von der ausgeklappten Couch im angrenzenden Wohnzimmer höre ich die gleichmässigen Atemzüge von Sergio, der eingeschlafen ist, nachdem die Krankenpflegerin ihre Wunden verarztet hatte.

Ein Blick auf die ulkige Wanduhr mit dem blau-rot gestreiften Zeiger verrät mir, dass es erst Viertel vor vier ist. Trotzdem sind die Strassen draussen in völliger Dunkelheit getaucht.

„Du kannst mir wirklich nicht sagen, was passiert ist?", fragt die junge Frau und legt ihre Hände um ihre Kaffeetasse. Ich schüttle den Kopf. „Damit würde ich dich nur in Gefahr bringen. Und ich stehe bereits tief in deine Schuld, dafür, dass du uns aufgenommen und versorgt hast."

Sie seufzt und blickt nach draussen in die Dunkelheit. Ihr Haus ist voller grünen Gewächsen, weshalb ihr Garten nicht viel anders aussieht und Hecken eine weitreichende Sicht verhindern. Die einzige Lichtquelle im Haus, welche angeschaltet ist, ist die Stehlampe mit der LED-Glühbirne in der Wohnzimmerecke, die ein warmes Licht aussendet und den Radius von zehn Metern erleuchtet. Im Wintergarten hingegen kommt fast kein Licht durch, weshalb Gilly eine kleine Kerze angezündet hat.

Kurz geht mein Blick zum schlafenden Sergio, der zugedeckt auf dem Sofa liegt. Seine Atmung geht langsam und ruhig, was ich für ein gutes Zeichen interpretiere. Zum Glück wurde er nur angeschossen, wie meine ehemalige Tanzgenossin meinte. Einige Stiche und ein Pflaster wäre das meiste, was sie tun könne.

Sie stützt ihre Arme auf dem Tisch ab und schliesst kurz ihre Augen. Ich frage mich, was ihr und James nur in die Quere gekommen ist, dass sie sich getrennt haben. Die rotbraunen Locken, welche ihr etwas ründeres Gesicht umschmeicheln, fallen ihr locker über die Schultern. Ihre haselnussbraunen Augen blitzten immer auf, wenn sie lachte. Dieses Mädchen, diese junge Frau, war schon immer der Sonnenschein unserer Tanzschule gewesen.

Und jetzt, so wie ich sie ansehe, scheint sich etwas geändert zu haben. Sie ist so still und ruhig.

„Schlaf doch ein wenig, wenn du müde bist. Schliesslich habe ich dich aus dem Bett gescheucht", meine ich nach einer Weile. Sie dreht ihren Kopf zu mir und lächelt mich sachte an.

„Ach was, mach dir darüber keine Sorgen, ich habe, als du mich aufgeweckt hast, schon mindestens neun Stunden geschlafen. Meine nächste Schicht ist erst am Mittwoch, also kein Ding."

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung, ehe sie sich gähnend nach hinten lehnt und noch einen Schluck Kaffee trinkt. Ich nippe vorsichtig an meinem Tee. Eigentlich hasse ich Kamille, aber sie hatte nichts anderes im Schrank.

Während wir so schweigend dasitzen, kommt mir ein Gedanke in den Sinn. Wo sollen wir heut Nacht schlafen? Ich hoffe, dass die Polizei mit der Hausdurchsuchung fertig ist. Sonst müsste ich Gilly auch noch fragen, ob wir bei ihr übernachten können.

Ich lasse meinen Blick durch das schwach erleuchtete Wohnzimmer schweifen. Schon beim Betreten ihres Hauses ist mir das Regal mit den Bilderrahmen aufgefallen. Langsam stehe ich auf und gehe dorthin, wobei ihre Augen mir folgen müssen. Ich betrachte die Fotos genauer. Eines zeigt sie im sehr jungen Alter in einem dunkelblauen Kostüm. Dann kommt ein Bild mit James. Zum Schluss eine Gesamtaufnahme vom Schlussapplaus mit der ganzen Truppe. Das war Sonntag, sie als Giselle, die für Kat eingesprungen ist.

Heute ist Montag. Ich schaue zu ihr.

„Hast du heute nicht Training?"

Sie nickt und gesellt sich zu mir. „Ja, eigentlich schon. Aber ich bleibe zuhause, falls doch Komplikationen auftreten."

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now