Kapitel 3 | Ein zweischneidiges Schwert

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Ich war ein Versager. Ein kopfloser Idiot ohne Ziel.

Was habe ich mir nur dabei gedacht, damit anzufangen? Weil ich irgendwie dachte, es wäre cool? Weil ich dachte, es wäre schön? Zähneknirschend balle ich meine Hände zu Fäusten.

Der Traum, den ich hatte, verwandelte sich in einen Alptraum. Aber ich schätze mal, das war mein Versagen. Man lernt doch, sich selbst zu hassen, immer besser werden zu wollen, obwohl man bereits am Limit ist. Oder zumindest ich habe es getan. Ich weiss nicht, wie es den anderen ging.

Und obwohl ich es so sehr gehasst habe, habe ich es geliebt. Den Tanz, das feurige Herumwirbeln, die Musik. Aber vor allem die Geschichten, die man ohne ein einziges Wort erzählt. Es war Kunst und Leidenschaft zugleich. Für mich.

Eastfort Ballettschule.

Die schwarzen Buchstaben auf weissem Hintergrund sind selbst im schwachen Licht der Strassenlaternen immer noch gut erkennbar. Es brennt Licht im Gebäude. Immer noch Training. Wie früher. Ich kann das nicht mehr länger mitansehen! Ich habe dem Tanz doch den Rücken gekehrt! Als Tänzer bin ich in jener Nacht gestorben, in welcher Papa von dieser verdammten Brücke gesprungen ist. Es ist das Geschehene, die Vergangenheit, und sie hat nichts in meiner Gegenwart zu suchen!

Bevor ich mich jedoch abwenden kann, da sehe ich eine Gruppe an quengelnden Jugendlichen aus dem Eingang der Schule stürmen. Ich kann meinem Drang nicht widerstehen, einen genaueren Blick auf die Gruppe zu werfen. Ob ich wohl noch jemanden kenne, der mit mir getanzt hat. Zunächst vernehme ich keine Gesichter, von dieser Strassenseite aus, gepaart mit dem schwachen Licht, erkenne ich nicht viel. Zwei Mädchen und drei Jungs sind es, glaube ich zumindest. Da erstarrt das grosse Mädchen mit den langen, welligen Haaren. Die anderen drehen sich zu ihr um, als sie merken, dass ihre Kollegin nicht mit ihnen geht. Da sehe ich sie auch. Katherine.

Okay. Tief durchatmen, Richard. Ja nicht betrunken wirken.

Ihre eisblauen Augen leuchten auf, als sie auf mich zukommt, über ihre Schulter eine Umhängetasche, in ihrer Hand ein Smartphone.

„Hey!", begrüsst sie mich. Ihre Stimme ist energetisch, etwas rau, aber hat einen einzigartigen Klang, tief, aber voll. Sie fällt mir direkt um den Hals. Etwas verwirrt stehe ich da, planlos, und nehme nur den Duft ihres aschblonden, weichen Haares wahr, oder ihr Parfüm. Auf jeden Fall etwas Frisches, Fruchtiges. Hoffentlich etwas, was meine Alkoholfahne überdeckt. Nachdem sie mich schier mit ihrer Umarmung erdrückt hat, tritt sie einen Schritt nach hinten und mustert mich von oben bis unten.

„Also viel gewachsen bist du nicht", merkt sie dann neckisch an und grinst, wobei eine Reihe weisse Zähne zum Vorschein kommen. Ihre Eckzähne stehen so ein wenig vor, was sie wie ein Kätzchen aussehen lässt. Das habe ich schon früher an ihr so unglaublich süss gefunden. Ich zucke mit den Schultern. Nein, ich bin wirklich nicht besonders viel gewachsen. Das Mädchen ist nur einige... Zentimeter vielleicht, kleiner wie ich, nur hat sie keine Stiefel mit einer dicken Sohle an, sondern gefütterte Winterschuhe.

„Alter Richie, wo warst du die ganze Zeit?", höre ich auf einmal eine männliche, tiefe Stimme hinter Katherine und muss meine Aufmerksamkeit darauf lenken. James. Der grosse, schlanke Junge hebt die Hand. Ich schaue ihn verwirrt an. Was will der?

„Come on, wieder zu tief ins Glas geschaut?", stöhnt er, packt mein Handgelenk und klatscht sich selbst mit meiner Hand ab. Ich stosse mit einigen Sekunden im Rückstand ein Lachen aus. Hat ja gut geklappt.

Eigentlich ist dies hier das, was ich am wenigsten gebraucht habe. Die ganze Truppe der Ballettschule, meine ehemaligen Kollegen. Weglaufen könnte ich, will ich allerdings nicht, irgendwie möchte ich es ihnen nicht antun.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now