Kapitel 22 | Wie Könige der Nacht tanzen wir

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Auf der ganzen Fahrt haben wir kein einziges Wort gesprochen. Die Stille im Wagen war mir trotzdem angenehmer, als wenn wir gestreitet hätten. Kapiert er es denn nicht? Mit einer Flucht würden mehr Probleme entstehen als sie lösen würde. Und selbst wenn nur einer von uns ins Ausland geht, was ist mit der anderen Person? Würde die AII nicht versuchen, diese über den Aufenthaltsort auszuquetschen?

In seiner Wohnung, wo der Teppich schon wieder etwas verschoben liegt, schmeisse ich mich direkt auf die Couch. Es ist nicht einmal sieben Uhr ist. Sergio hat seine Sachen angelassen und ist auf die Terasse gegangen, wo er raucht, in seiner anderen Hand hat er eine Flasche Whiskey, die zu einem Viertel gefüllt ist. Das Päckchen Zigaretten liegt auf dem kleinen Tisch unter dem bedachten Bereich. Mittlerweile dürfte es seine dritte sein.

Schweren Herzens schaue ich ihm durch das Glas zu, während es in der Wohnung dunkel bleibt. Irgendwann stehe ich auf und öffne die Terassentür. Hier oben pfeift der Wind und lässt mich erschaudern. Er dreht sich um. Der rote Punkt seiner glimmernden Zigarette lässt mich erschaudern.

„Was willst du?", fragt er mich mit einem feindseligen Blick.

„Reden", erwidere ich und seufze, bevor ich meine Arme um mich schlinge, weil es so arschkalt ist. Zwei Minuten mehr und ich werde ein Eiszapfen. „Können wir reingehen?"

„Ich rauche nicht in der Wohnung."

„Dann gib mir zumindest etwas davon."

Ich deute auf die Flasche. Er schaut kurz darauf, zögert, überreicht sie mir aber. Ich schraube den Deckel ab und nehme einen grossen Schluck. Diese Scheisse brennt meine ganze Speiseröhre weg. Ich zwinge mich dazu, nochmals einen Schluck zu nehmen und bin froh, dass es beim zweiten Mal nicht mehr ganz so brennt. Nur der üble Geschmack, an den werde ich mich wohl nie gewöhnen.

Hätte man mir vor zwei Jahren ein Glas Schnaps hingestellt, würde ich daran riechen und könnte direkt all meine Organe auskotzen. Das waren Zeiten.

Die Flasche gebe ich ihm zurück. Das warme Gefühl, wie Glut liegt es in meinem Magen, lässt mich die äusserliche Kälte tatsächlich etwas vergessen. Meine Wangen fühlen sich auch nicht mehr taub an, sie brennen ein wenig.

„Worüber willst du reden?", fragt er mich auf einmal, jedoch ohne mich anzuschauen.

„Über die Flucht."

„Aha."

„Ich sag's dir nicht noch einmal. Du weisst, was ich von dieser Idee halte."

„Was willst du sonst machen? In diesem beschissenen Land weiter ausgenutzt werden?"

Seine Stimme ist kalt, so wie ich sie noch nie gehört habe. Er schaut einfach in den Sternenhimmel, und ich frage mich, was er bloss denkt, als er einen Schluck aus der Flasche trinkt.

„Manchmal haben wir eben keine andere Möglichkeit", sage ich leise. „Manchmal müssen wir nun mal das akzeptieren, was für uns vorgesehen ist. Denk an all die Arbeiter in den Fabriken. Glaubst du, dass sie jede Minute Pläne aushecken, wie sie aus dem Land fliehen können? Nein, das tun sie nicht. Sie sind zufrieden mit dem, was sie haben. Ihr Leben ist nicht schlecht. Unseres ist es schon gar nicht."

Er wendet sich zum ersten Mal nach langer Zeit zu mir. In seinen Augen erkenne ich ein Gefühl, welches ich nicht recht beschreiben kann. Trauer, Enttäuschung... oder doch Sehnsucht?

„Dieses Leben reicht mir nicht. Die ganze Zeit nur ausgenutzt zu werden, um danach wie Müll weggeschmissen zu werden. Das, was ich suche, ist der Lebenssinn. Und hier finde ich ihn definitiv nicht."

Nochmals ein Schluck. Ich reisse ihm die Flasche aus der Hand und trinke selbst daraus. Begreift er denn nicht?

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass es uns in Vercem besser gehen wird?", fauche ich und ziehe meinen Arm weg, als er nach der Flasche greifen will.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now