Kapitel 25 | Gelebte Träume

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„Wer ist das dort?", frage ich Kat flüsternd, während wir darauf warten, dass die Stunde beginnt. Die Musik vom angerenzenden Tanzsaal dürfte so laut sein, dass man uns nicht hört. Ich deute mit einer Kopfbewegung zum Mann, etwa um die vierzig, mit den dunklen Locken und der grossen, schlanken Statur, der bei der Stereoanlage steht und etwas auf einem Blatt zu entziffern versucht. Ich habe ihn noch nie hier gesehen.

„Viktor Visanski, neuer Lehrer. Seit einigen Wochen", erwidert meine Freundin ebenso leise. „Er ist echt übel."

„Übel schlecht oder übel streng?"

„Übel streng."

„Das sind doch alle", höre ich James' Stimme hinter uns. Ich drehe mich um. Er zuckt nur mit den Schultern.

„Das stimmt wohl", murmle ich.

„Der Typ ist von der KBA, was will man auch erwarten?", fügt mein ehemaliger Tanzpartner an.

„Echt?", frage ich. Der junge Mann nickt. „Sein Turn-Out geht weiter als der Horizont von Gilly."

„Nicht lustig", schnauft Katherine.

„Wahrscheinlich topfit direkt von der KBA hierher gewechselt", murmle ich und beäuge das Loch an meinem Schuh, welches sich an der Zehenspitze aufgetan hat. Zum Glück trage ich heute schwarze Socken, das fällt niemandem auf.

„Ich hoffe wirklich, draussen steht ein Krankenwagen bereit, sonst kannst du vielleicht den Ehrentitel des ersten im Eastfort verstorbenen Schülers ins Grab mitnehmen", meint James und klopft mir auf die Schulter, bevor er neben mich rutscht.

„Das hoffe ich auch", entgegne ich scherzhaft, obwohl ich es nicht so lustig finde. Ich mache mir wirklich Sorgen, ob ich die Stunde durchstehe. Von 0 auf 100 ist wohl nicht die beste Idee gewesen.

Ich schaue auf die Uhr. Eine Minute. So viel Zeit habe ich, um meine Beine in die Hand zu nehmen und von hier zu verschwinden. Ich blicke zur Tür. In diesem Moment kommt Mrs Zarik hinein. Ihr Blick fällt sofort auf mich, jedoch sagt sie kein Wort und geht zu Mr Visanski, der sich etwas auf dem Blatt notiert. Die Lehrerin sagt ihm etwas, woraufhin der Mann nickt. Er klascht in die Hände. Ich hasse es, wenn Leute das tun.

„Fehlt heute jemand?", fragt er in die Runde, wobei sein Blick etwas länger bei mir stehenbleibt als nötig gewesen wäre.

„Becca, aber die kommt sowieso immer zu spät", meint eine Frau, die ich nicht kenne. Einige verstohlene Blicke huschen zu mir, die ich zu ignorieren versuche. In diesem Moment kommt Becca tatsächlich rein, entschuldigt sich hastig und beginnt, ihre Haare zu richten und ihre Jacke auszuziehen. Beides gleichzeitig irgendwie. Keine gute Idee.

„Und Sie sind?", fragt Mr Visanski, wobei ich eine kurze Weile brauche, um zu bemerken, dass er mit mir redet.

„Richard Veysefkian Mhebric", entgegne ich. „Ich habe vor zwei Jahren hier getanzt und möchte nach der Pause wieder anfangen."

Er nickt und starrt mich dabei mit seinen kalten, blauen Augen an, die mir ein ungutes Gefühl geben.

„Sie wollen also wieder regelmässig Lektionen besuchen, habe ich das richtig verstanden?"

Ich nicke. „Die Rechnung können Sie an die Mutter von Katherine stellen."

Getuschel in der Menge. Das habe ich vorhin mit Róis ausgemacht. Solange ich kein eigenes Geld im ersten Ausbildungsjahr verdiene, zahlt sie für mich die Stunden. Sie verdiene bei der AII genug Geld, um zehn Leuten die Stunden zu finanzieren, hat sie gemeint. Dafür verkauft man aber auch seine Seele, habe ich gemurmelt. Alles hat eben seinen Preis.

„Gut, dann fangen wir an."

Wir verteilen uns an den Stangen, ich suche mir einen Platz, von dem ich mein seitliches Profil im Spiegel stehen kann. Die Stille im Saal, bevor der Lehrer etwas sagt, ist bedrückend.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now