Kapitel 16 | Pflicht

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Zwei Fouettés. Ihr Blick trifft mich mit voller Wucht. In ihren Augen brennt das Feuer der Leidenschaft. Es liegt eine Spannung zwischen uns, die ich nicht beschreiben kann. Vorsichtig, mit langsamen Schritten, gehe ich auf sie zu. Bedacht, keinen Ton zu machen. Ich nehme sie an der Hand. Eine Arabesque. Pirouette. Grand jeté. Ich lege meine Hände um ihre Taille, hebe sie hoch.

Es sind keine einzelnen Elemente. Es ist alles eine einzige, fliessende Bewegung, die so leicht und elegant ist, wie es nur eine höhere Macht sein kann.

Dann eine gehobene Arabesque. Sie springt ab, ich hebe sie hoch. Ich stehe am Geländer einer Brücke. Meine Arme geben nach. Sie stösst einen Schrei aus, als ich sie nicht mehr festhalten kann. Ich will noch nach ihr fassen, aber ihre Hand ergreife ich nicht mehr. Sie stürzt in die Tiefe, auf das Eis.

Mein Herz hämmert wie verrückt, als ich meine Augen aufschlage. Ich bin nicht auf der Brücke. Ich liege auf einem verdammten Sofa. Und es klingelt an der Tür.

„Ich komme ja schon!", rufe ich und beeile mich, mir etwas überzuwerfen, denn in Boxershorts und oberkörperfrei kann ich nicht aufmachen. Bei der Tür angekommen fällt mir auf, dass jemand unten läutet. Nicht vor der Wohnungstür. Ich schalte die Sprechanlage an.

„Wer ist da?", frage ich und mache auch noch das Display an, damit ich sehe, wer wirklich unten steht.

„Sergio", erwidert eine verzerrte Stimme. Aber sie gehört eindeutig ihm. Auf dem Bildschirm sehe ich einen Sergio, auch wenn nicht so deutlich.

„Ich mache dir gleich auf", sage ich und drücke den Knopf, welcher die Eingangstür aufmacht. Dabei frage ich mich schon, warum er geläutet hat. Er muss doch den Schlüssel haben, oder?

Ich strecke mich erstmal. Mein Schädel brummt. Was ist gestern Abend überhaupt passiert? Habe ich etwa schon wieder zu viel getrunken? Mir fehlt ein ganzes Stück meiner Erinnerungen. Dass ich mit Katherine Haare gefärbt habe, daran kann ich mich noch erinnern. Stimmt. Ich stürze ins Bad und betrachte mich im Spiegel. Tatsächlich. Es ist keine Einbildung. Die Spitze meines rabenschwarzen Haares sind blutrot. Es ist ein ungewohnter Anblick... aber es gefällt mir. Dieses Unterfangen hätte auch ganz anders ausfallen können.

Erleichtert streiche ich mir durch meine wilde Mähne. Auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann, was gestern Abend passiert ist, es kann nicht allzu schrecklich gewesen sein. Katherine ist vernünftig, sie wird schon aufgepasst haben, dass ich mir keine Alkoholvergiftung geholt habe. Ich entdecke eine angebrochene Flasche Schnaps auf der Ablage hinter dem Waschbecken. Die muss von uns stammen. Ich glaube, es wäre besser, wenn ich sie schnell verschwinden lasse.

Gerade als ich aus dem Bad komme, klingelt es schon wieder. Dieses Mal muss es die Wohnungstür sein. Ich blicke mich schnell nach einer Versteckmöglichkeit für die Flasche um und beschliesse, sie erstmal mit der Sofadecke zu bedecken. Dann gehe ich zur Tür und mache auf.

Meine Kinnlade klappt auf. Wie sieht der denn aus? Ein Verband am linken Arm, ein blaues Auge, unzählige Kratzer im Gesicht. Bevor ich jedoch etwas sagen kann, hat er sich schon in seine Wohnung gezwängt.

„Kein Kommentar", brummt er und verschwindet sogleich in seinem Labor.

„Verdammte Scheisse, hat dich dein Bruder wieder zusammengeschlagen?", frage ich und stürme ihm hinterher. „Wird es nicht mal an der Zeit, zur Polizei zu gehen?"

Das ist mir rausgerutscht. Natürlich kann er nicht zur Polizei. Aber sowas muss doch strafrechtlich verfolgt werden!

„Die Polizei wird schon kommen", murmelt er und reisst die Schubladen mit seinen ominösen Pillen auf.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now