Kapitel 5 | Feindliches Blut

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Ich dachte, ich würde den Kerl nie wiedersehen. Ich hoffte, ich würde den Kerl nie wieder sehen. Was ich gestern Abend gelabert habe, kommt mir nicht mehr in den Sinn, aber es muss was Sinnloses gewesen sein. Wenn ich betrunken bin, ist bei mir im Kopf die Hölle los.

Aber nein. Es ist eindeutig seine Stimme. An die kann ich mich klar erinnern. Dunkel, mit diesem aussergewöhnlichen Akzent und der Sanftheit in sich. Ich verbleibe an Ort und Stelle, weiss nicht, was sagen. Ich will nichts sagen. Immer noch bin ich überrumpelt.

„Kannst du mir ne Schulter leihen, Richard?", fragt er, nachdem ich eine Weile geschwiegen habe. Nun erwache ich endlich aus meiner Starre und weiche einen Schritt nach hinten. Habe ich ihm jemals meinen Namen genannt? Irgendwie macht es mir Angst. Nicht er. Aber die Begebenheiten. Und die Umstände. Wir sind allein in der dunklen Gasse. Das ist zwar nicht Clarkton, aber Cirrane. Und es laufen bei Nacht eine Menge zwielichtige Gestalten rum.

„Ich warte", meint er. Ich habe immer noch nichts gesagt.

„Was willst du?", quetsche ich heraus. Nicht gerade die herzlichste Begrüssung. Nichts gegen ihn. Verdammt, er ist nur eine flüchtige Bekanntschaft! Oder? So viele Erinnerungen habe ich nicht mehr an den Abend. Was macht er überhaupt hier? Sitzend, auf einem Stapel Kisten. In der dunklen Gasse. Schwer kann ich mir vorstellen, dass er eine Person ist, die um zwei Uhr nachts noch draussen umherzieht. Dass er sich so betrinkt. Wobei... ich kenne ihn nicht einmal!

„Deine Hilfe. Auch wenn ich ungern zugebe, dass ich Hilfe benötige", ächzt er und richtet sich auf. Er ist riesig. Das ist hängengeblieben. Überragt mich um mindestens einen Kopf. Und er soll Hilfe brauchen? Von einem Knirps wie mir? Ich stosse ein Schnaufen aus. „Da hast du aber Glück gehabt, dass ich ausgerechnet hierhergekommen bin. Oder hast du etwa hellseherische Kräfte?"

Mein Ton ist etwas genervt, definitiv ironisch. Wie absurd ist das denn? Von seiner Seite höre ich ein heiseres Lachen. Was erwartet er? Wir kennen uns nur flüchtig. Dazu noch war ich die meiste Zeit des Abends ziemlich dicht. Egal wie komisch die ganze Situation auch gerade ist, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Seine Grösse passt perfekt zu der des Einbrechers im Black Jack. War er es etwa?

„Ist Zufall, dass du ausgerechnet hier aufgekreuzt bist", brummt er und kratzt sich am Hinterkopf. „Spendierst du mir einen Drink im Black Jack? Das hätte ich gerade dringend nötig."

Ich glaub's ja nicht. Fast wären mir meine Ohren abgefallen. Verdattert schaue ich ihn an, sein Gesicht kann ich im nicht vorhandenen Licht immer noch nicht erkennen.

„Naja, also ich weiss nicht... die Bar ist schon geschlossen. Ich würde dir ja gerne helfen, aber..."

Als er auf mich zukommt, mache ich nochmals einige Schritte nach hinten. Was will er von mir? Ist er etwa wirklich betrunken?

„Willst du wirklich einen Verletzten seinem Schicksal überlassen?"

Auf einmal werde ich hellhörig. Verletzt? Wenn er der Einbrecher war, dann wird er doch hoffentlich nicht so dumm sein und die Wunde offenbaren. Schliesslich weiss ich ganz genau, dass ich den Eindringling am Oberkörper verwundet habe. Für einen kurzen Moment zögere ich, aber dann überwiegt meine Neugier. Ich will endlich wissen, ob er der Einbrecher ist oder nicht. Deshalb sage ich: „In Ordnung. Du gehst vor."

„Danke", erwidert er und läuft los. Den Weg scheint er zum Glück noch zu kennen. So dicht kann er also nicht sein.

Auf dem Weg grüble ich. Viel. Was ist passiert? Warum ausgerechnet er? Fragen, die jetzt keine Antwort finden. Wir erreichen schon bald das Lokal, schliesslich habe ich mich nicht besonders weit davon entfernt. Wie viel weiss Sergio? Warum verlässt er sich darauf, dass ich in die Bar komme? Hat er den Schlüssel mitgenommen? Und wieder einmal wünschte ich, mein Gedächtnis wäre zu irgendetwas zu gebrauchen, wenn ich betrunken bin. Ein weiterer Wunsch, der nie in Erfüllung gehen wird.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now