Sechster Zwischenteil

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Gerard packte gerade seine Tasche, als es an der Tür klopfte. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach Ausbildungsschluss. Sicherlich war es ein Auszubildender. Er rief die Person hinein. Mit dem schwarz-rotem Haarschopf von Richard Mhebric hätte er nicht gerechnet. Die Haare missfielen ihm, vor allem der rote Teil. Aber da im Vertrag nichts dagegensprach, verkniff er sich einen Kommentar.

„Was willst du?", fragte der Chief of Training und stellte seine Tasche auf den Boden. Der Blick des Jungens schweifte kurz durch sein Arbeitszimmer. Er war nicht der erste. Die penible Ordnung seiner Räumlichkeiten war schon vielen Auszubildenden, die wegen Urlaubsgesuch in sein Büro kamen, aufgefallen. Ein einziger Kugelschreiber lag parallel neben der Tastatur, die Ordner standen in Reih und Glied im Regal. Keine leeren Kaffeetassen, kein Kabel an der falschen Stelle. Gerard hasste Unordnung. Ihn beunruhigte die Vorstellung, etwas nicht finden zu können, wenn er in Zeitnot war.

Richard blieb vor seinem Schreibtisch stehen und zog etwas aus einer Mappe. Es war eine schwarz-weisse Fotografie von einem frisch verheirateten Paar. Interessiert lehnte er sich nach vorne, um das Bild genauer zu betrachten. Da erkannte er den jungen Mann neben der grazilen Frau. Scott Mhebric. Das musste vor Firewall sein, denn er trug sein schwarzes, langes Haar nach nasmosischer Tradition, die Hälfte hochgesteckt, die andere Hälfte offen. Bei Eintritt ins Programm hatte er seine Haare kurz getragen, womit er auch nicht mit den anderen auffiel. Damals war er zwar noch nicht Ausbildungsleiter, aber er hatte nach Annahme der Stelle die Akten des Firewall-Programms bekommen.

Die Frau an seiner Seite kannte er nicht, aber er erinnerte sich daran, dass Scott davon sprach, er habe eine Frau zuhause, als die beiden in Trident stationiert waren.

„Von woher hast du das?", fragte er den Auszubildenden, der sich anscheinend nach einer Sitzgelegenheit umsah. Hier stand kein schwarzer Plastikstuhl.

„Kennen Sie das Foto?", erwiderte Richard stattdessen. Er schüttelte den Kopf.

„In einer Kiste in der Wohnung von Sergio Santana."

Erstaunt hob Gerard die Augenbrauen.

„Dazu habe ich einen Brief gefunden. Geschrieben von meinem Vater, adressiert an einen gewissen Ignatius Santana, dem Kartellboss, den Sie einige Tage zuvor erschossen haben. Ich zitiere: Lieber Ignatius, ich hoffe, es geht dir und deinen Söhnen gut. Sie wachsen schnell. Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich hatte viel um den Kopf. Erst gestern haben Meilin und ich geheiratet. Leider werden die nächsten Wochen nicht weniger entspannt. Wenn du mich treffen willst, schreib mir. Scott M."

Es war, als wurde er in die Vergangenheit katapultiert. Der Wortlaut seines Kamaradens war einer, den man nicht oft hörte. Er fragte sich wieder einmal, ob Scott schon immer so gesprochen hatte, oder ob es ein Symptom von Firewall war. Die Klarheit in seinen kurzen Worten war beachtlich, aber auch kalt, denn es war ein Brief. Ein Brief von einem der besten Agenten der AII an den berüchtigsten Kartellboss des Jahrzehnts.

„Ich frage mich, ob Sie wussten, dass mein Vater mit Ignatius Santana zu tun hatte."

Gerard schüttelte vehement den Kopf. Dies war ihm auch neu. Es war eine Information, mit der er nichts anzufangen wusste.

„Willst du mir nur das Foto zeigen oder bist du wegen einer anderen Gelegenheit hier?" Der Auszubildender wollte etwas von ihm. Sonst hätte er ihm das Bild nicht gezeigt.

„Diese Frau." Er deutete auf die Frau auf der Fotografie. „Ist Meilin Mhebric. Sie kommt aus Nasmos und arbeitet als Geomatikerin in Amalaswin. Ich möchte über Weihnachten dorthin fahren und mich nach ihr erkundigen."

„Ich dachte, du interessierst dich nicht dafür, was dein Vater gemacht hat?"

„So bessessen wie Sie von ihm sind, muss doch etwas dran sein. Vielleicht finde ich dadurch das nächste Staatsgeheimnis raus und habe dann etwas gegen die AII und die SSA in der Hand."

Am Abgrund der Zeit | Band IOnde histórias criam vida. Descubra agora