Kapitel 13 | Die Welt durch deine Augen

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Als ich die Klingel an Sergios Wohnung drücke, erinnere ich mich endlich mal daran, einen Blick auf das Namensschildchen zu werfen. S. Miller.

Solider Name. Genervt verdrehe ich die Augen. Als ob ich wirklich erwartet habe, dass Santana draufsteht. Allerdings frage ich mich, wie lange er das noch durchziehen möchte. Zwar machte die Fabrik, in der ich war, einen legalen Eindruck, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass er mit dem Kartell in Verbindung steht. Ich habe nicht viel Ahnung von der Drogenpolitik hierzulande, welches Kartell nun am mächtigsten ist, wer was verkauft... damit habe ich nie etwas zu tun gehabt.

Sergio erweckt jetzt auch nicht den Eindruck, dass er etwas von seiner Familie und dem Geschäft hält. Aber jetzt, wo sein Vater gestorben ist, hat er auf einmal wieder so viel zu tun. Geht es wirklich nur um das Administrative oder will er sich eine gute Position sichern?

In diesem Moment wird die Tür aufgemacht. Sergio steht in einem zerknitterten, weissen Hemd und gekämmten Haaren vor mir.

„Da bist du ja wieder", meint er, als ich reingehe. Darauf antworte ich erstmal nichts.

„Also, hör zu. Es tut mir leid, dass ich dich heute Nachmittag nicht begleiten kann. Eine Notfallsitzung in der Firma", sagt er, nachdem er die Tür zugemacht hat. „Bin wahrscheinlich am Abend wieder da. Ich lass dir einen Ersatzschlüssel da. Aber komm ja nicht auf die Idee, ne Fete hier zu schmeissen."

Ich grinse und nicke. „Mach dir keine Sorgen. Ich werde die meiste Zeit eh nicht hier sein."

Da klopft er mir auf die Schulter, schnappt sich seinen Mantel und den Schal und geht raus. Ich habe sturmfrei. Dann stelle ich mir aber die Frage, ob er mich wirklich alleingelassen hat. Hier, in seiner Wohnung. Er weiss nicht, dass ich seine wahre Identität kenne. Wie gross ist das Risiko, dass ich zufälligerweise etwas finde, was auf jene hindeutet? Wie würde er reagieren? Ich bin ihm deswegen ja nicht sauer. Er ist dadurch keine schlechte Person.

Seufzend laufe ich einige Augenblicke lang im Wohnzimmer hin und her. Einige Minuten sind verstrichen, er ist nicht wiedergekommen. Also beschliesse ich, etwas sehr Dummes zu tun. Ich öffne die Tür von seinem Labor. Dieses hat er nämlich nicht abgeschlossen. Die Tür war nur angelehnt. Auf dem Tisch steht ein Umzugskarton, den ich noch nie gesehen habe. Es hat auch nicht das Logo von seiner Firma drauf. Eine neue Lieferung ist es also nicht.

Welche Geheimnisse verbergen sich in diesem Raum? Abgesehen von den Haufen Drogen, die er in die Schublade hat. Kurz werfe ich einen Blick über die Regale. Es stehen nur legale Substanzen drin. Nichts, was auffällt. Ich schaue wieder zum Karton auf dem Tisch, trete näher. Die Kiste ist schon geöffnet worden. Ich schiebe die Klappen beiseite und sehe hinein. Einige Bücher und in Zeitungspapier gewickelte Sachen befinden sich darin. Erstere nehme ich in die Hand. Sie sind schwer und alt, Geografiebücher. Ich frage mich, von wem die wohl sind.

In der Hoffnung, einen Namen oder andere Information in den Büchern zu finden, schlage ich das erste auf. Eine Karte fällt hinaus. Ich gehe in die Knie, um sie aufzuheben. Es ist ein Foto, schwarz-weiss.

Es zeigt ein junges Pärchen, in den Zwanzigern vielleicht. Die Frau trägt ein traditionelles, nasmosisches Hochzeitskleid und hat Lilien in ihrem dunklen Haar. Ihr Lächeln wirkt schüchtern, sie hat ein hageres, eher längliches Gesicht. Ich würde sie nicht als konventionell schön bezeichnen, aber etwas an ihrem Gesicht hat definitiv Charme. Es ist ausgeglichen, aufeinander abgestimmt. Sehr natürlich.

Der Mann trägt einen eher nördlich wirkenden Anzug mit moderneren, nasmosischen Elementen. So zum Beispiel die drei Quasten am Kragen. Aber es ist nicht seine Kleidung, welche mich am meisten irritiert. Es ist sein Gesicht. Es kommt mir so bekannt vor. Zu bekannt.

Am Abgrund der Zeit | Band IOù les histoires vivent. Découvrez maintenant