Kapitel 27 | Heimreise

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Ich stochere im braunen Gemisch herum und spiesse angewidert ein Stück Artischocke mit der Gabel auf. Abgesehen davon, dass ich mit Besteck nicht ordentlich essen kann, empfinde ich eine Abneigung gegenüber Artischocken, die fast so stark ist, wie die gegenüber dem Chief of Training, der das Essen wie ein Hungernder in sich reinschaufelt. Die braune Sauce tropft in den Alubehäter und besteht wahrscheinlich zum Grossteil aus billiger Sojasauce und Gemüsebrühe. Reingeschnippelt Gemüse und eine Ladung Bohnen aus der Dose, dazu gibt es etwas Reis. Das einzige, was ich an diesem Gericht nährhaft finde, ist der Alubehälter, aber den kann man wohl schlecht essen.

Ehe ich es mich versehe, ist Moran mit seinem Essen fertig. Schnell trinkt er einige Schlucke und stellt die Wasserflasche wieder hin. Ich schaue auf die Uhr. In einer halben Stunde werden wir sowieso in der Hauptstadt von Eyriepolis ankommen, dort kann ich mir etwas ordentliches zu essen besorgen. In meiner Tasche habe ich eine Packung Zwieback, von der ich nicht satt werde. Ich schliesse das Lid des Behälters und schiebe ihn zur Seite. Die Aussicht geniesse ich mehr als das Essen.

„Willst du nichts essen?"

Ich schaue zu ihm. Dann schüttle ich den Kopf. Mein Magen knurrt.

„Du hast den ganzen Tag nichts gegessen."

„Wohlgemerkt", brumme ich und schaue schnell auf die Uhr. Es ist fast sieben. „Ich geh mir schnell die Beine vertreten."

Er schaut mich skeptisch an, lässt mich aber gehen. Wahrscheinlich ist es nicht so einfach, aus einem fahrenden Zug zu springen. Als ich die Abteiltür hinter mir geschlossen habe, knöpfe ich meinen Mantel zu, da es auf dem Gang kälter ist als im Abteil. Ich gehe mit der Fahrrichtung, komme am Ende des Waggons an und bleibe vor einem Fenster stehen, welches ich öffne. Endlich frische Luft. Sie ist kalt, aber nicht so eisig wie die in Lizburry, schliesslich bewegen wir uns immer mehr gegen Süden.

Wegen der Dunkelheit erkenne ich draussen nicht viel, vereinzelt einige Lichter. Was die Menschen in Eyriepolis um die Uhrzeit wohl machen? Wahrscheinlich sitzen sie mit ihren Familien beim Abendessen. Die Leute hier hat es härter getroffen als Estoria, sie sind auf das Öl und Gas angewiesen, welches Nasmos ihnen lieferte. Wir haben Resbnik, der uns damit versorgt. Estoria hat den ganzen Norden hinter sich, im Süden konzentriert man sich auf den Krieg, niemanden interessiert es, wie es dem Volk geht, solange vor der Haustür gekämpft wird.

Ich frage mich, wie es sich anfühlt, mittendrin zu sein. Als Zivilist, als Soldat. Ob sich die Perspektiven unterscheiden oder ob man im Krieg gleich ist. Als Soldat hat man mehr Macht, aber eigentlich gibt es nur Verlierer in diesem grausamen Spiel. Egal was man macht, entweder man stirbt oder man ist für den Rest seines Lebens gekennzeichnet. Ich würde lieber sterben, als ein Arschloch zu werden, welches seine unerfüllten Träume anderen aufdrückt, damit diese ihre Reise durchleiden können.

Hätte meine Mutter mich als Minderjähriger rausgeschmissen, wäre ich im Heim gelandet und nur ein Schritt davon entfernt gewesen, ins Militär geschleust zu werden. Vielleicht sollte ich der Agency dankbar sein, dass ich so zumindest nicht aufs Schlachtfeld muss, wenn Estoria irgendwann, aber sicher in den Krieg zieht. Zumindest bin ich kein Soldat, der anderen das Leben nimmt, bevor ihm selbst jenes genommen wird. Ich frage mich, ob die erste Tötung einem am schwester fällt und alles andere leichter wird, oder ob man es aus Reflex tut. Weil man es muss, um zu überleben. Und wenn man dann heimkehrt, mit einem Eisenkreuz auf der Uniform, doch nicht mit einem stolz erhobenen Kopf, weil nicht einmal ein Orden das Geschehene rückgängig machen kann.

Für Gerard Moran versuche ich keine Empathie zu empfinden, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann kann ich nachvollziehen, warum er so handelt, wie er es tut. Ich habe ihn auf Fotos nie mit einem Orden oder Ähnlichem gesehen, für Estoria ist er kein Kriegsheld, das ist Hauptadjutant James Murphy, welcher Trident vom unterdrückerischen Vercem befreit hat. Murphy hatte seine Truppe in den Sieg geführt, nicht der General, der einige Ränge höher als der Hauptadjutant steht. Es ist eine Erfolgsgeschichte, eine, die Hoffnung verspricht, selbst denjenigen, die gesellschaftlich am Rande stehen. Jeder kann es schaffen, wenn man es nur will, und selbst die höchsten Tiere versagen in einem System, wie wir es geschaffen haben.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now