Kapitel 10 | Teil 1 | Krieg...

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Irgendwann lasse ich mich auf einer Bank in der Stadt fallen. Der Schnee unter meinem Hintern ist mir sowas von egal. Ich wollte einfach nur weg von dort. Während des Gesprächs habe ich gar nicht gemerkt, wie mein Leben mir Stück für Stück durch die Hände glitt. Vor mir sehe ich die Strasse. Dahinter sind die Schienen. Ich würde mich gerne auf sie legen und warten, bis ein Zug kommt. Dann wäre es vorbei. Einfach so. Alles. Alles in meinem Leben hätte ein Ende. Wie schön ich mir das vorstelle...

Aber eigentlich habe ich doch keinen Grund dazu. Ich habe keinen Grund, um zu sterben. Andererseits habe ich auch keinen Grund, um zu leben.

Meine Hände verkrampfen sich, während ich so da sitze. In der Kälte. Sie sind schon ganz taub. Niemand geht um diese Uhrzeit auf dem Gehsteig. Mein Blick schweift in die Ferne. Dunkelheit, einige Strassenlaternen leuchten schwach. Aber sonst? Ich bin allein. Irgendwie. Und alles schreit gerade danach, der Tortur ein Ende zu setzen. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Nicht einmal möchte ich mich fragen, warum es mich treffen muss. Eine Antwort darauf habe ich sowieso nicht.

Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wann endlich die Erlösung kommt. Der Schuss, welcher alles beendet. Aber er ist nicht gekommen. Niemand hat mich aufgehalten. Und nun? Ich weiss selbst nicht, wo ich gelandet bin. In diesem einen Moment scheint die Zeit so fern zu sein. Mit all ihren Problemen, für die ich nicht einmal etwas kann.

Verdammt. Warum kriege ich überhaupt nichts hin? Sitze auf dem Geldbeutel von Sergio, versuche mich irgendwie durchzukämpfen. Wenn immer etwas gut läuft, kommt etwas, was das ganze ruiniert. Gerard Moran und die verdammte AII. Die Wahrheit... ein Scherz. Dass Papa jetzt irgendetwas mit der Agency zu tun hatte, das ist mir klar. Wahrscheinlich hat er für sie gearbeitet. Aber ich verstehe nicht, was es jetzt mit mir zu tun hat.

Vielleicht hatte meine Mutter doch recht. Dass ich es nicht schaffen würde, allein auszukommen. Dass aus mir niemals was wird. Bisher habe ich ja nicht viel erreicht. Die meisten Tage habe ich in der Schule verbracht. Damit ist jetzt allerdings auch Schluss. Ich habe die obligatorische Schulzeit vollendet. Neun Jahre sind es, seit vorletztem Jahr müsste ich nicht mehr dorthin. Eigentlich will ich auch gar nicht mehr dorthin. Was hat mir die Schule gelehrt, ausser, dass ich nichts wert bin, wenn meine Noten scheisse sind? Nein, sie mussten nicht einmal scheisse sein. Ich konnte die Semester bestehen und die Lehrer hätten mich immer gehasst. Sie mögen ja nur die Besten der Besten. Zu ihnen habe ich nie gehört.

Ich habe gar nicht gemerkt, dass jemand direkt vor mir steht. Wie lange schon? Missmutig schaue ich zu der Person in Schwarz auf. Die Kapuze hat sie so tief ins Gesicht gezogen, dass ich jenes nicht erkennen kann. Sie nimmt etwas hinter dem Rücken hervor, was ich erschrocken als eine weisse Lilie identifiziere. Kinnlanges, blondes Haar lugt hervor. Es ist nicht mein Vater. Trotzdem nehme ich mit zittrigen Fingern die weisse Blume an.

„Wer bist du?", flüstere ich mit schwacher Stimme. Immer noch ungläubig starre ich in meine Hände, wo die so perfekte Lilie ruht.

„Ein Freund", erwiderte die Person vor mir. Ihre Stimme ist sanft und weich. Sie spricht so zärtlich zu mir. Niemand hat mit mir jemals so gesprochen.

Ich mache einen Schritt nach vorne, bevor ich meine Arme um die Gestalt in Schwarz schlinge. Tränen sammeln sich in meinen Augen.

„Du bist der Freund, welcher mir Papa versprach", hauche ich unter einem Schluchzer. Die Wärme dieser Gestalt umgibt mich wie eine schützende Decke. „Ich... ich bin dir so dankbar."

Auch wenn ich ihr Gesicht nicht sehe, sie ist es. Der Freund, welchen ich mir gewünscht habe. Der, welcher mein Vater versprach. Und nun ist er endlich zu mir gekommen! Ich drücke mich an die Person, fühle mich zum ersten Mal in den Armen geborgen und geliebt. Sie streicht mir über den Rücken, so sanft und zart. Es... ich könnte für Ewigkeiten hier sein. Ich möchte für Ewigkeiten in ihren Armen liegen! So warm und herzlich ist es hier. Die Welle des Glücks trifft meinen Körper und ich muss schluchzen. Ich kann nicht anders. Es ist himmlisch.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now