Kapitel 4 | Das Lied vom Tod

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Eine leise Musik klingt in meinen Ohren. Das Geklimpere von einem verstimmten, alten Klavier. Irgendwo in der Ferne.

Langsam öffne ich meine Augen. Nein, es war kein Traum. Das Klavier höre ich immer noch. Rasch setze ich mich im knarzenden Bett auf und spitze meine Ohren. Ob es vielleicht nicht doch nur eine Einbildung ist. Aber nein. Die Musik ist real. Sie kommt von unten. Verwirrt reibe ich mir über die Augen. Es ist immer noch dunkel im Zimmer, die Vorhänge habe ich gestern Abend wohl vergessen zu schliessen. Mir brummt der Kopf, es ist kalt. Mit zitternden Händen nehme ich meinen Schal, der über dem Fussende des Bettes hängt, und wickle ihn um meinen Hals, ehe ich in meine Schuhe schlüpfe und mir meinen Mantel überwerfe. Meine Haare sind noch etwas nass.

Wer spielt um diese Zeit?

Vorsichtig schliesse ich meine Zimmertür auf und schlüpfe nach draussen. Die Bar ist nicht separat von den Zimmern getrennt. Jeder mit dem Zimmerschlüssel könnte sich also auch an der Bar bedienen. Aber soweit ich weiss, hat es bisher noch keine Probleme gegeben. Unter Maevas und Riggs Leitung jedenfalls. Die letzten zwei Jahre habe ich nicht richtig mitbekommen, was hier passiert ist. Warum auf einmal alle verschwunden oder tot sind. Ich frage mich, womit es zu tun hat.

Der Virus, der ausgebrochen ist? Nein, nein. Was hat Tobias erzählt? Verkehrsunfall und Schiesserei? Ersteres halte ich in Cirrane für unwahrscheinlich. Selbst bei Tag sind nur einige holprige, getunte, aber langsame Roller unterwegs. Maeva würde sich nicht auf solch ein Gerät setzen. Sie ist eine sehr vorsichtige Person. Und Thorne? Schiesserei, wahrscheinlicher. Aber nicht in Cirrane, wenn, dann in Clarkton, welches die meisten nur das Drogenviertel nehmen.

Merkwürdige Umstände. Alles innerhalb von zwei Jahren?

Genau in diesem Moment hört das Lied auf. Ich setze mich ruckartig in Bewegung, stürze den Gang entlang und stolpere die knarzende Treppe hinunter, doch es sitzt niemand am Klavier. Überhaupt bin ich allein im Raum. Ein kalter Schauer kriecht mir über den Rücken. Ich stütze mich am Geländer ab. Es ist dunkel, aber ich sehe definitiv niemanden. Das Klavier steht an der Wand, als wäre es nie berührt worden. Nur diese Musik, diese Melodie hallt in meinen Ohren wider. Sie ist mir bekannt. Vielleicht sogar zu bekannt.

Er hat es zusammen mit mir gesungen, immer, als ich klein war. Papa war kein besonders guter Sänger. Die Erinnerungen jedoch, welche mit dieser simplen und doch so schönen Melodie verbunden sind, die werde ich nicht vergessen. Und jetzt ist diese wieder da...

Eine zärtliche Stimme flüstert mir ins Ohr. Ich drehe mich auf dem Absatz um, doch hinter mir steht niemand. Ich sehe nur Dunkelheit. Beängstigende Schatten, die mich zu verschlingen drohen. Halluziniere ich etwa? Dabei bin ich mir sicher, dass ich die Musik gehört habe. Und die zarte Stimme. Wörter habe ich nicht heraushören können. Aber sie war so sanft und zart zu mir. Niemand hat jemals so mit mir gesprochen. Nicht einmal Papa.

Ich lasse mich auf meine Knie sinken und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Warum? Warum musste ausgerechnet mich das Schicksal treffen? Warum muss das Unglück mich begleiten? Es ist ja nicht einmal so, dass alles Glück mit meinem Vater geendet hat. Das Unheil hat sich schrittweise genähert, bis es fest zugeschlagen hat. Doch es war immer da. Ich habe es gespürt. Und nichts tun können. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit ist schlimmer als alles andere.

An jenem Abend hätte ich mir noch so viel Mühe geben können, bei der Vorstellung, wahrscheinlich hätte nichts meinen Vater davon abbringen können, nicht zu springen. Es war bereits zu spät. Und doch fühle ich mich verantwortlich. Während des ersten Aktes ist er in der Vorstellung gekommen. Während des zweiten hat er mir zugeschaut. Während des dritten ist er gegangen. Während des vierten ist er gesprungen. Während des vierten bin ich auch gestürzt. Habe mir den Knöchel verstaucht, trotzdem weitergemacht. War eine Scheissidee.

Am Abgrund der Zeit | Band IWhere stories live. Discover now