6. Kapitel - Henry

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„Wie war der erste Schultag?" Meine Mutter sah erst mich und dann Cathie fragend an, während sie eine Kartoffel auf die Gabel spießte und zum Mund führte. Ich wollte gerade antworten, aber meine Schwester kam mir zuvor.

„Wirklich wunderbar!", schwärmte sie und lächelte breit. „Ich wurde erneut zur Klassensprecherin gewählt", fügte sie dann hinzu. Unsere Mutter lächelte. 

„Wie wunderbar!", sagte sie. „Das zeigt, dass du dieses Amt sehr gut ausführst", fügte unser Vater hinzu. Wie immer klang er dabei so stolz. Dabei war es ein Wunder, dass er und Mum zusammen am Tisch saßen. 

Wer behauptete, die Ehe meiner Eltern wäre harmonisch, der irrte sich gewaltig. Ich wartete eigentlich nur darauf, dass sie uns verkündeten, dass sie sich scheiden ließen. Für mich würde sich nichts ändern. Ich war durch meine Verpflichtung als Hüter hier gebunden. Aber Cathie könnte hier weg, was für sie wirklich gut wäre. Sie könnte mehr aus ihrem Leben machen und erfogreich werden.

„Henry, deine Mutter hat dich etwas gefragt!" Ich blinzelte und sah meinen Vater an. „Verzeihung", sagte ich schnell und wandte mich meiner Mutter zu. „Wie war die Frage?" In ihrem Blick lag Missbilligung. Ein Ausdruck den sie eigentlich mir gegenüber selten auflegte.

„Ich fragte, wie dein Schultag war", sagte sie und ich nickte. „Gut", antwortete ich und weil ihr das nicht reichte, holte ich etwas weiter aus. „Ich wurde natürlich auch wieder zum Klassensprecher gewählt und Mr. Adams..." „Natürlich!", schnaubte mein Vater. „Sag das nicht so, als wäre es selbstverständlich!" Ich senkte den Blick und seufzte.

„Du musst lernen, deine Aufgaben mit Demut anzunehmen! Nichts im Leben ist eine Selbstverständlichkeit Henry!" Ich nickte, um das Thema schnell hinter mich zu bringen. „Wenn deine Mitschüler dich wieder zum Klassensprecher wählen, ist das ein Zeichen von Respekt und Vertrauen. Niemand wird einfach so zu irgendwas gewählt!" 

Doch, wenn man der Sohn von Lucius Nox ist... Das lag mir auf der Zunge. Aber ich schluckte es runter

„Ich weiß... Tut mir leid", sagte ich stattdessen. „Also ich war wirklich überrascht, dass ich wieder gewählt wurde. In meinen Augen hätte es jeder andere werden können. Dass mir meine Klasse wieder das Vertrauen schenkt sie in schulischen Anliegen zu vertreten, ist eine wirkliche Ehre!" Mein Vater lächelte seine Lieblingstochter liebevoll an. 

Klar... Unsere süße, kleine, heuchlerische Cathie... Die süße, kleine, heuchlerische Cathie grinste mich an. Am liebsten hätte ich ihr jetzt sowas von den Mittelfinger gezeigt. Aber ich verkniff mir die Geste und widmete mich einfach wieder meinem Teller.

Eine Weile nahmen wir unser Essen schweigend zu uns. Das war keine Seltenheit im Hause Nox. Meine Eltern hatten sich nichts mehr zu sagen und Cathie und ich konnten nicht miteinander reden, ohne dass mir oder ihr ein paar unschöne Worte rausrutschten. Und obwohl ich sie manchmal am liebsten im Schlaf erwürgen oder zumindest ihre perfekt gezupften Augenbrauen abrasieren wollte, liebte ich sie und würde für sie alles tun. Zum Glück wusste das kleine Monster dies nicht. Oder wenn sie es wusste, nutzte sie es wenigstens nicht aus.

„Ich habe gehört, ihr habt eine neue Schülerin", sagte unser Vater plötzlich an Cathie gewandt. Überrascht sah meine kleine Schwester auf. „Äh... Ja, haben wir. Sie geht in meine Klasse", antwortete sie. Mum lächelte. 

„Wie ist so? Ich hoffe du hast ihr ein wenig die Schule gezeigt? Als neue Schülerin hat man es nicht leicht und es immer schön, wenn jemand einen unter die Arme greift!" Cathie wurde rot und ich grinste. Wenn ich das heute richtig mitbekommen hatte, dann hatte die Neue sie eiskalt abblitzen lassen und war mit der Rothaarigen abgehauen. Wurde Zeit, dass ich mich ein bisschen an dem kleinen Engel rächte.

Avaglade - Die Hüter von Lavandia (Buch 1)Where stories live. Discover now