18. Kapitel - Henry

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Ich hätte nicht gedacht, wie zuwider es mir sein würde, in den See zu steigen. Das Wasser schimmerte noch immer rötlich und es roch nach verdorbenen Fisch. Die Luft wirkte, als würde sie still stehen und die Sonne  schien vom Himmel herunter.

Ein Kopf tauchte aus dem Wasser auf und Zara schwamm langsam auf mich zu. „Henry", sagte sie und in ihrer Miene zeichnete sich Besorgnis ab. 

„Was ist mit deinem Gesicht passiert?"

Ich fuhr mir geistesgegenwärtig über die Wange. 

„Es ist nichts Schlimmes", sagte ich und versuchte ihre besorgte Miene zu ignorieren, während ich auf sie zu watete und mich in das kühle Nass sinken ließ. Meine Anspannung fiel von mir ab und ich atmete tief durch. 

Ich hatte den Spruch schon sooft genutzt, um Lenori im Palast zu besuchen. Und trotzdem fielen mir die Worte heute besonders schwer, da ich sie wegen eines unschönen Anlasses nutzen würde.

„Schützende Macht, heilende Kraft, gewähre mir den Anblick des Wassers magische Pracht", murmelte ich und tauchte unter.

Als ich die Augen öffnete, konnte ich genauso gut sehen, wie als wäre ich an Land. Meine Hände und Füße hatten sich gewandelt und zwischen meinen Fingern und Zehen war Schwimmhäute aufgetaucht, die es mir leichter machen, mich durch das Wasser zu bewegen.

Zara schwamm voraus und ich folgte ihr bis auf den Grund des Sees, der tiefer war, als man anfangs glauben konnte.

Normalerweise wimmelte es hier unter Wasser nur so von Leben und obwohl die Sonne nicht sehr weit nach unten drang, hatte ich noch nie ein so beklemmendes Gefühl verspürt wie heute. 

Es hätten Fische hier herumschwimmen müssen, aber der See war wie ausgestorben. Nur vereinzelt erhaschte ich einen Blick auf Leben zwischen den Algen und Wasserranken. Die viele, kleinen Wassergeister, die normalerweise ebenfalls überall zu sehen waren und dafür sorgten, dass die Unterwasserwelt magisch und prachtvoll erschien, lugten nur kurz aus ihrem Versteck hervor.

Zara schwamm anmutig vor mir. Ihre Haut, die hier unten grünlich wirkte, statt perlweiß, schien heute noch dunkler und die langen, dunklen Haare flogen hinter ihr her und das erste Mal sah ich, wieso in vielen Geschichten die Nymphen als böse Wasserwesen bezeichnet wurden. Sie waren eben hier unten nicht so wunderschön, wie sie es vielleicht an Land waren. Und ich wusste, dass ihre Magie gefährlich war.

Umso tiefer wir vordrangen, umso mehr spürte ich wie mir der Kopf wehtat. Normalerweise hatte ich nie ein Problem mit dem Druck unter Wasser. Aber normalerweise hatte ich auch keine Gehirnerschütterung. Ich kniff die Augen zusammen und zwang mich ruhig weiter zu schwimmen. Ich musste durchhalten.

Als der Palast und das Dorf der Nymphen auftauchte, war es kaum wieder zu erkennen. Das normalerweise, durch das Licht der Wassergeister, hell erleuchtete Dorf, lag völlig dunkel und verlassen dar. Schlüpflinge, die normalerweise fröhlich durch das Dorf schwammen und lachend spielten, waren jetzt nicht zu sehen.

Das Königreich der Nymphen wirkte trostlos und verlassen.

„Sie trauern", sagte Zara neben mir. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich angehalten hatte. „Sie sind beim Palast. Komm", fügte sie dann hinzu und nahm mein Handgelenk. 

Wir schwammen weiter und kamen beim Palast an, der normalerweise wunderschön war. Heute wirkte der Stein, aus dem er gemacht war, allerdings nur kalt und bedrohlich. Davor hatten sie die Nymphen versammelt und sie hatten alle ihre Blicke gesenkt.

Liron trat aus dem Palast und mir entwich ein erschrockener Laut. Er trug seine Tochter Lenori im Arm und legte sie, ganz vorsichtig und behutsam, auf einem Stein ab. Die Nymphen verneigten sich und ich tat es ihnen gleich. Ich spürte, wie meine Augen zu brennen anfingen und ich wusste, dass wenn ich jetzt an Land wäre, würden Tränen aus ihnen hervorquellen.

Avaglade - Die Hüter von Lavandia (Buch 1)Où les histoires vivent. Découvrez maintenant