Kapitel 35

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29.10.2020, Emilia-Romagna, Imola

Ich hab drei Rennen verpasst diese Saison. So viele, wie noch nie. Die einzigen Menschen mit denen ich in der Zeit so richtig gesprochen habe, waren die Leclercs und Pierre. Lando, Carlos, Max und Madeline haben sich immer wieder mal bei mir gemeldet, aber ich hab sie großteils ignoriert. Ich hab wieder öfter mit meiner Therapeutin gesprochen, um aus diesem Loch zu kommen. So richtig gelungen ist es mir noch nicht, aber ich gerate nicht mehr direkt in Panik, wenn ich daran denke, dass meine Freunde in diese Autos steigen. In dieser Zeit ist auch kein Blogeintrag oder YouTube Video online gegangen und meine Postfächer explodieren mit Fragen wo ich bin.

Die Jungs sind heute schon alleine an die Strecke gefahren, ich komme nach. Ich hab mir eine Jeans, einen Pullover und Sneaker angezogen, aber ich bin noch im Hotelzimmer, hab meine Kamera auf dem Stativ aufgebaut und mich auf einen der Stühle gesetzt. Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet habe, beginne ich zu reden.

„Hi. Ähm, das wird ein bisschen ein anderes Video werden als gewöhnlich", starte ich. „Wie ihr in letzter Zeit vielleicht gemerkt habt, kamen keine Blogeinträge, Videos oder Posts online. Auch war ich bei keinem Rennen mehr. Das liegt daran, dass es mir psychisch nicht so gut geht."

Ich muss ein paar Mal tief durchatmen, bevor ich mir zitternd durch die Haare fahre.

„Ich werde mir Mühe geben, dass dieses Wochenende noch ein Vlog hochgeladen werden kann. Aber jetzt vielleicht mal mehr dazu, warum es mir nicht gut geht. Wie viele von euch wissen, war Jules Bianchi mein Bruder. Seinen Unfall hab ich damals live gesehen und seit seinem Tod, oder auch schon davor wenn ich ehrlich bin, leide ich an Depressionen. Es gibt leichtere, bessere Phasen und es gibt schlimmere Phasen. Die meiste Zeit geht es mir relativ gut, was ich meinen Freunden, vor allem aber Pierre, Charles und Lando zu verdanken habe. Aber in Mugello gab es einen Zwischenfall."

Wieder strömen die Bilder auf mich ein, aber ich versuche sie zu ignorieren.

„Einer der Fahrer war so nett, dass ich mich in sein Auto setzen darf für ein Video. Aber keiner von uns konnte damit rechnen, was das auslösen würde. Ich... während ich dort drinnen saß, hatte ich eine Panikattacke, einen Nervenzusammenbruch. Ich hab zum ersten Mal das gefühlt, was mein Bruder in seinen letzten Augenblicken gefühlt hat. Das hat Gefühle in mir hochkommen lassen, mit denen ich nicht umgehen konnte. Seit dem bereitet mir der bloße Gedanke daran, dass einer meiner Freunde so in diesem Auto sitzt, Panik. Seit Jahren bin ich in Therapie, in letzter Zeit wieder häufiger. Vor etwa drei Jahren hab ich einen Selbstmordversuch gemacht, seitdem bin ich mindestens einmal die Woche in Sitzungen."

Eine Träne rollt mir über die Wange, aber ich wische sie nicht weg. Es ist genug, ich werde mich nicht verstecken.

„Zu diesem psychischen Stress hat auch ein Reporter namens Greg Devenport beigetragen. Seit Monaten verfolgt er mich, stellt mir Fragen, bedrängt mich. Vielleicht habt ihr ja die Bilder gesehen, die kürzlich von mir veröffentlicht wurden. Bilder, wie ich mich in Mugello übergebe und dann zusammenbreche. Oder Bilder aus Monaco, wie ich weinend am Grab meines Bruders sitze. Aber auf das will ich eigentlich nicht hinaus. Das Ziel dieses Videos sollte eigentlich sein, dass ihr euch bitte Hilfe sucht, wenn ihr sie braucht. Redet mit jemandem, wenn es euch hilft oder weint einfach. Mit diesem Video wollte ich euch nur sagen, dass es mir oft nicht gut geht, ich mir aber Mühe geben werde aus diesem Loch wieder zu kommen. Danke auch an jeden, der sich erkundigt hat ob es mir gut geht, aber dieses Wochenende werde ich wieder mit an der Strecke sein und euch so gut es geht mitnehmen. Wir sehen uns!"

—-

Auf meinem Weg zu Ferrari werde ich von allen möglichen Leuten angesprochen, die sich erkundigen wie es mir geht. Mit fast allen unterhalte ich mich ein bisschen. Es ist mittlerweile schon Nachmittag, da ich noch im Hotel geblieben bin um das Video zu schneiden und es direkt hoch zu laden. Viel zu schneiden gab es nicht, da ich es so echt wie möglich lassen wollte. Schon auf dem Weg hier her sind immer mehr Nachrichten eingetrudelt, von Leuten die es gut finden, dass ich so ehrlich bin. Für viel Kommentarelesen hat es gerade nicht gereicht, aber das ist egal.

You were there for me - Lando Norris FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt